Wer als Forscher mit Hilfe von Läsionsstudien dem Verständnis des menschlichen Geistes näher kommen will, der braucht hoch entwickelte Säugetiere, deren Gehirn im Labor auf den experimentellen Prüfstand und unter das Skalpell kommt. In diesem Zusammenhang ist sowohl von Tierversuchen als auch von Feldforschung am lebenden Menschen die Rede. Doch was ist die Logik hinter der Läsionsstudie? Wie werden Läsionsstudien durchgeführt? Und wie passen Menschen als „Versuchskaninchen“ ganz legal in die mehr oder weniger blutigen Feldforschungspläne der klinischen Neuropsychologen?
Was nicht mehr da ist, kann nicht mehr funktionieren
Ein komplettes und gesundes Gehirn in einem zufriedenen und glücklichen Körper funktioniert genau so, wie es soll. Einerseits fehlerfrei und zielstrebig innerhalb seiner natürlichen Parameter, andererseits aber auch rätselhaft in seiner Komplexität für den neugierigen Blick des Wissenschaftlers. Darum sind Hirnforscher schon sehr früh auf den Gedanken verfallen, die Reaktionen und Leistungswerte eines gesunden Gehirns mit jenen Daten zu vergleichen, die ein Gehirn zeigt, dem ein ganz bestimmter Teil abgeht. Und damit dem cerebralen Vergleichsmodell exakt das fehlt, was die Forscher in seiner Funktionalität ergründen wollen – muss das fragliche Hirnteil wohl oder übel chirurgisch mit präzisem Schnitt planvoll entfernt werden. Das solcherart dezimierte Gehirn hat nun eine gewollte Verwundung und Verletzung; auf Latein eine Läsion. In einer Läsionsstudie wird also, vereinfacht gesagt, ein hirngesundes Tier mit einem gezielt lädierten Artgenossen verglichen. Alles, was das hirnverletzte Tier nach seiner neurochirurgischen Zwangs-OP nicht mehr kann oder nicht mehr vermag, sollte demnach auf das entfernte Hirnareal zurückzuführen sein. So kann man, wenn man dieser Logik folgt, aus dem Fehlen einer Fähigkeit nach der gesetzten Läsion auf die normale Funktion jener Nervenzellen schließen, die entfernt wurden.
Gezielte Hirnläsionen – auch beim Menschen?
Allerdings. In diesem Fall müssen sich die Neuropsychologen allerdings mit jenen Hirnläsionen begnügen, die im Zuge einer medizinisch therapeutischen Intervention aus dem neurochirurgischen Operationssaal nach geglücktem und komplikationsfrei verlaufenem Eingriff wieder rausgerollt kommen. Und das sind nicht wenige. So verdankt die Neuropsychologie zum Beispiel jenen Epilepsiepatienten einen immensen Wissensschatz, deren Balken (Corpus Callosum) chirurgisch durchtrennt wurde, um das bestehende Anfallsleiden in den Griff zu kriegen. Aber auch Tumorpatienten, denen bestimmte Hirnteile entfernt werden mussten, sind im Feldforschungslabor des Neuropsychologen willkommene Mitarbeiter. Auch sollen an dieser Stelle die ungezählten Unfallopfer nicht vergessen werden, deren Gehirne durch schlimme Unfälle in Mitleidenschaft gezogen wurden, und die deshalb später einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Geistes leisten konnten. Eines dieser Unfallopfer hat es aufgrund seiner schier unglaublichen Krankengeschichte zu weltweiter Berühmtheit gebracht. Sein Name war:
Phineas Gage
Als diesem 25 Jahre alten Arbeiter im Jahre 1848 bei einem Arbeitsunfall eine über einen Meter lange und drei Zentimeter dicke Eisenstange mitten durch den Schädel getrieben wurde, hätte niemand mehr auf das Überleben des Mannes gewettet. Doch er überlebte den Unfall nicht nur bestens gelaunt, sondern lieferte der Neurowissenschaft anschließend durch seine posttraumatischen Wesensveränderungen wertvolle Fakten, die man heute mit dem Begriff „Frontalhirnsyndrom“ zusammenfasst. Eine Läsionsstudie par excellence – wenn auch definitiv nicht zur Nachahmung empfohlen.
Weiterführender Link zum Thema:
The incredible case of Phineas Gage
http://neurophilosophy.wordpress.com/2006/12/04/the-incredible-case-of-phineas-gage/
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