Die Schulden türmen sich auf, die Familie ist vom Rückhalt zum Hinterhalt mutiert, der Chef ist ein gnadenloser Tyrann. Oder, noch viel schlimmer: Ein geliebter Mensch ist gestorben, oder man hat unaussprechlich Grauenvolles mit ansehen oder miterleben müssen. Es gibt mehr als 1000 unmittelbar nachvollziehbare Gründe, den Schrei „Ich will raus!“ aus der gepeinigten Seele auszustoßen. Dennoch wird man diesem spontanen Fluchtimpuls eher nicht nachgeben, weil man ja ganz genau weiß, dass einen das eigene Leben und die eigene Vergangenheit immer wieder einholen werden. Man kann eben nicht vor sich selbst davonlaufen, da man schließlich immer die eigene Identität und die eigenen Erinnerungen im mentalen Marschgepäck hat. Allerdings hält sich die Psyche in diesem Zusammenhang für ganz besonders dringende Notfälle einen letzten Fluchtweg offen, für den Psychiater die Begriffe „Fugue“ (französisch: Flucht), „Poriomanie“ (griechisch: Reise) oder „Dromomanie“ (griechisch: Lauf) verwenden. Doch wer nimmt diesen Weg? Und wie gefährlich kann dieser bizarre Aufbruch in ein neues Ich werden?
Kontrollverlust auf Schusters Rappen
Die Klassifikation nach ICD-10 ordnet der psychischen Störung „Dissoziative Fugue“ die Kennziffer „F44.1“ zu. Damit fällt die pathologische Befreiung von der eigenen Identität als „Reisevorbereitung“ in die Gruppe der neurotischen, der Belastungs- und der somatoformen Störungen. Die Betroffenen laufen dann, vom hinderlichen Ballast der eigenen Impulskontrollfunktion gleichsam erlöst, ganz einfach weg. Und die zurück Gebliebenen finden weder einen Grund für das plötzliche Verschwinden, noch haben sie irgendeine Ahnung, wohin der vermisste Mensch verschwunden sein könnte. Ironischerweise verfolgt auch der Betroffene selbst kein bestimmtes Ziel. Hauptsache weit genug weg. Und damit die Flucht aus der alten Existenz auch klappt, legt sich gleichzeitig der gnädige Schleier des Vergessens (Stichwort: dissoziative Amnesie, ICD-10 F44.0) über das bisher gelebte Leben. Da kann es dann beispielsweise passieren, dass man einen langjährig unerklärlich verschollenen amerikanischen Top-Manager durch einen erstaunlichen Zufall im fernen Australien als zufriedenen Tellerwäscher in durchaus geordneten Verhältnissen wieder aufstöbert.
Welche Menschen lösen eine Fahrkarte für den psychotischen „Runaway Train“?
Die folgenden seelischen Ausnahmezustände können eine dissoziative Fugue bedingen:
- Besonders schwer verlaufende Neurosen / traumatische Belastungsreaktionen sowie
- Depressionen,
- Wahnbildungen, insbesondere auch im Rahmen
- schizophrener Erkrankungen,
- geistige (hier vor allem kognitive) Beschränkungen,
- altersbedingte Demenzen (insbesondere Alzheimer-Demenz) sowie
- extrem bedrohlich empfundene Situationen in Kindheit und Pubertät.
Welche Gefahren drohen den „Reisenden“?
Wer wie Falschgeld durch die Gegend läuft, ist durch den ganz normalen Straßenverkehr sowie durch die üblichen städtebaulichen Barrieren größten Gefährdungen ausgesetzt. Außerdem lauern bei den unausweichlichen Übernachtungen unter freiem Himmel sowohl Unterkühlungszustände als auch die soziopathische Gewaltbereitschaft gelangweilter Krawallschläger. Nicht selten werden Fugue-Betroffene auch zu Opfern opportunistischer sexueller Gewalt. Und selbst dann, wenn die Ausreißer von der Polizei aufgegriffen werden, bedeutet das nicht unbedingt den guten Ausgang der Geschichte. Denn weil die planlos Umherwandernden sich weder an ihr zuhause noch an sich selbst erinnern können, sind auch dem hilfsbereitesten Ordnungshüter die Hände gebunden.
Zum Glück ist Fugue mit einer Verbreitung von 0,2 % in der Allgemeinbevölkerung nicht besonders häufig zu diagnostizieren.
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