Es ist gut einfühlbar, warum ein Mensch seinen geliebten Partner umwirbt, und seine wertgeschätzten Freundschaften aktiv pflegt. Doch was ist mit jenen bemitleidenswerten Leuten, die sich sowohl mit partnerschaftlichen als auch mit freundschaftlichen Beziehungen extrem schwer tun, weil ihre Seelen verletzt oder beschädigt wurden?
Dann kann es dazu kommen, dass sich die Betroffenen ihre so verzweifelt ersehnten Streicheleinheiten und Aufmerksamkeiten in Arztpraxen und Notaufnahmen abholen kommen. Und wenn sie sich die dazu notwendigen bedrohlichen Krankheiten und gefährlichen Verletzungen ohne Zögern selbst beibringen, immer und immer wieder – dann spricht man in der Psychopathologie vom Münchhausen-Syndrom.
Münchhausen-Syndrom – der schmerzhafte Schrei nach Liebe
Personen, die am Münchhausen-Syndrom leiden, sind zumeist Männer mittleren Alters und Frauen in den Wechseljahren. Auffällig für diese schwere psychische Störung, die durchaus zum Tode führen kann, ist die fast schon permanente Konsultation möglichst vieler niedergelassener Ärzte oder Klinikärzte. In letzterem Fall spricht man auch vom „Hospital-Hopper-Syndrom“ oder „Krankenhausspringer-Syndrom“. Die Betroffenen werden dabei mit immer neuen und grundsätzlich stets dramatischen Symptomen vorstellig, die eine ebenso akute wie apparativ aufwändige medizinische Intervention zu fordern scheinen. Auch folgenreiche chirurgische Eingriffe, seien es Notfalloperationen oder regulär anberaumte OPs, werden von den Patienten problemlos willkommen geheißen. Hauptsache, das gesamte Ärzteballett dreht sich ausschließlich um sie.
Und an diesem Punkt erkennt man auch, was diesen bedauernswerten Menschen eigentlich fehlt: freundschaftliche Zuwendung, liebevolle Fürsorge und ungeteilte Aufmerksamkeit. Diese zwischenmenschlichen Wärmequellen werden so sehr und so schmerzlich vermisst, dass sich Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Niere entfernen lassen würden; nur, um ausgiebig bemuttert und bemitleidet zu werden. Wer jetzt an das Stichwort „Krankheitsgewinn“ denkt, hat seine psychologischen Hausaufgaben gut gemacht.
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Gefahr für Arzt und Patient
Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom haben keine Scheu davor, sich selbst zu verletzen, zu vergiften oder auch zu verstümmeln, um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit des Arztes sicher zu sein. Die unmittelbare Gefahr für den Patienten ist dabei ganz offensichtlich. Doch auch der Arzt kann ab sofort große Probleme bekommen; nämlich dann, wenn er das Vorliegen dieser psychischen Störung nicht erkennt, und in der Folge dem überzeugend vorgebrachten Bedürfnis des Patienten nach intensiver Behandlung nachkommt. Denn dann kann er sehr schnell, und völlig ahnungslos, eine gepfefferte Schadenersatzklage wegen schwerwiegender Kunstfehler an den Kittel kriegen.
Armes krankes Kind
Sich selbst zu verstümmeln, um ein „interessanter Fall“ zu sein, ist schlimm genug. Doch wenn wehrlose Kinder im Griff ihrer psychisch schwer gestörten Mütter Höllenqualen erleiden müssen, damit nach außen eine bodenlose Mutterliebe und unendliche Fürsorglichkeit inszeniert werden kann, ist man als Beobachter nur noch grenzenlos schockiert. Kaum zu fassen, dass Mütter, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leiden, genau das tun. Jeder verantwortungsbewusste Kinderarzt, der hier aufgrund der ungewöhnlich dicken und exklusiven Krankenakte auch nur den Anflug eines Anfangsverdachts hat, muss dem sofort nachgehen. Denn im Sinne hilfloser kleiner Opfer gilt grundsätzlich: Lieber einmal zu oft falsch verdächtigt, als einmal zu wenig gründlich hingeschaut.
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