Ein kleines Gerät sorgt für eine große Kontroverse. Wenn der Zahnarzt zu der meist an einem Hebelarm angebrachten Röntgenkanone greift, die Bleischürze anlegt und den Raum verlässt, fühlt sich kein Patient so richtig wohl. Kein Wunder, denn statistisch gesehen ist dieser Vorgang das wahrscheinlichste Szenario, in dem sich ein Durchschnittsmensch heutzutage ionisierender Strahlung aus einer nicht-natürlichen Quelle ausgesetzt sieht. Weitaus weniger potent und weniger dramatisch als der am meisten diskutierte Ursprung dieser Strahlung, nämlich radioaktives Material, hat sich das zahnmedizinische Gerät aber bislang genauerer wissenschaftlicher Untersuchung entzogen.
Ein Beitrag in dem von der amerikanischen Krebs-Gesellschaft herausgegebenen Magazin „Cancer“ ändert dies nun. In der April-Ausgabe der Zeitschrift präsentiert Professor Elizabeth Claus von der renommierten Yale-Universität ihre Studie, die sich mit der möglichen Gefährlichkeit solcher Aufnahmen befasst. Die Kernaussage dieser Untersuchung: zu häufiges Röntgen des Gebisses kann statistisch gesehen die Gefahr erhöhen, dass der Patient einen bestimmten Gehirntumor entwickelt.
Meningeome zu 30 Prozent tödlich
Für ihre Studie befragte Claus 1433 amerikanische Patienten, die zwischen 2006 und 2011 mit einem Meningeom diagnostiziert worden waren – ein zu 98 Prozent gutartiger Hirntumor. Es ist das in reichen Industrienationen am häufigsten auftretende Geschwulst des Schädels. Gutartig ist in diesem Fall jedoch nicht mit ungefährlich gleichzusetzen. Meningeome üben Druck auf das Gehirn aus und können zu Kopfschmerzen, emotionalen Problemen und in schlimmeren Fällen zu Blindheit oder epileptischen Anfällen führen. 30 Prozent dieser Tumorerkrankungen verlaufen innerhalb von fünf Jahren tödlich.
Die Antworten der erkrankten Studien-Teilnehmer wurden dann mit denen von 1350 gesunden Testpersonen verglichen, die von Alter, Geschlecht, Hintergrund und Lebensumständen her mit den Meningeom-Patienten vergleichbar waren. Dabei ging es um drei verschiedene dentale Röntgenmethoden: die besonders häufige, einzelne Bissflügelaufnahme, eine Serie von Bissflügelaufnahmen und die Panorex-Aufnahme, bei der ein Gesamtpanorama des Gebisses erstellt wird und die besonders für Kieferorthopäden relevant ist.
Zahnspangenträger besonders gefährdet
Die Studie belegt, dass Teilnehmer, die mindestens einmal im Jahr eine Bissflügelaufnahme erhielten, mit einer mehr als zweifach erhöhten Wahrscheinlichkeit ein Meningeom entwickelten. Wenn die Anzahl der Aufnahmen sogar weiter anstieg, so stieg auch die Tumorgefahr. Insgesamt war diese zwischen 40 und 90 Prozent höher als für diejenigen, die ohne Röntgen auskamen. „Diese Studie unterstreicht die Notwendigkeit, das öffentliche Bewusstsein in Bezug auf optimales dentales Röntgen zu erhöhen. Denn im Gegensatz zu anderen Risikofaktoren kann dieses moderiert werden“, sagt die Studienautorin Claus.
Statistisch besonders problematisch erscheinen Panorex-Untersuchungen an Kindern von unter zehn Jahren. Sie erhöhen laut Studie das Meningeom-Risiko um das bis zu fünffache. „Und heutzutage ist das eine Standardprozedur für Kinder, bevor sie ihre Zahnspangen bekommen“, warnt Claus.
Strahlenbelastung dennoch rückgängig
Die Wissenschaftlerin betont jedoch, dass ihre Ergebnisse keine medizinisch-kausale Verursachung dieses Hirntumors durch ionisierende Strahlung nachweisen, sondern lediglich einen statistischen Zusammenhang, der weitere Untersuchungen anstoßen sollte. Experten verweisen auch auf das geringe Grundrisiko. Denn nur drei von 100 000 Menschen entwickeln ein Meningeom. Demnach bedeute auch ein verdoppeltes Risiko lediglich den Anstieg von einer 0,003 prozentigen zu einer 0,006 prozentigen Gefahr.
Selbst Claus räumt ein, dass ihre Studie nicht unbedingt das aktuelle Risiko korrekt beziffert. Denn das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 57 Jahren, ein Alter bei dem die meisten Patienten die Mehrheit ihrer Röntgenuntersuchungen bereits hinter sich haben. Und die Strahlenbelastung bei diesen Aufnahmen hat sich in den vergangenen 30 Jahren ungefähr halbiert.
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Zahnarzt genau befragen
Auch wenn Kritiker die statistischen Methoden der Studie teilweise kritisieren, so stimmen selbst diese mit Claus überein, dass solche dentale Röntgenaufnahmen auf ein absolutes Minimum reduziert werden sollten. „Egal wie niedrig die Strahlendosis letzten Endes auch ist, sie ist immer höher als Null“, sagt Dr. Alan Lurie, Präsident der Amerikanischen Akademie der Oral-Radiologen. Deswegen solle der Patient grundsätzlich immer den Zahnarzt fragen: „Warum wird diese Aufnahme gemacht und welchen Nutzen hat sie für meine Gesundheit?“
Zahnärztliche Fachverbände wie zum Beispiel die amerikanische ADA empfehlen, dass dentale Röntgenaufnahmen an dem selben Patienten nicht häufiger als alle zwei bis drei Jahre an gesunden Erwachsenen und alle ein bis zwei Jahre an gesunden Kindern vorgenommen werden. Zudem rät der Verband zu schnell belichtbaren Filmen oder Digitalaufnahmen. Elizabeth Claus betont jedoch, dass die Gespräche mit ihren Versuchsteilnehmern klar belegen, dass sich bei weitem nicht alle Zahnärzte an solche Vorgaben halten. Sie drückt die Hoffnung aus, dass ihre Studie dies ändert.
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