Der berühmte „One Drink too many“ führt oft dazu, dass man sich am nächsten Tag nicht mehr so wirklich an alles erinnert, was man im süffigen Vollrausch gesagt und getan hat. Da liegt nicht selten ein gnädiger Schleier des Vergessens über einer ganzen Armada von Fettnäpfchen, in die man der Reihe nach reingestolpert, oder besser gesagt, reingewankt ist. Bislang ging die Wissenschaft davon aus, dass dieses Phänomen, das der Volksmund als „Filmriss“ kennt, dem unwiederbringlichen Verlust von in zu viel Alkohol abgestorbenen Hirnzellen geschuldet ist. Doch diese Annahme ist grundfalsch, wie jüngste Forschungsergebnisse jetzt belegen. Vielmehr stellt es sich so dar, dass das große Vergessen beim Saufgelage nicht der Abgesang auf moribunde Nervenzellen ist, sondern das Ergebnis einer vorübergehenden „blauen“ Rezeptorenstörung, die mit der Ausnüchterung auch wieder verschwindet. Und mit diesem Wissen im Hinterkopf kann man dem gefürchteten Filmriss sogar medikamentös vorbeugen. Wenn auch bei der dazu notwendigen Zweckentfremdung eines Haarwuchsmittels anderweitige Standfestigkeiten flöten gehen würden.
Was passiert denn nun wirklich beim Filmriss?
Diese Frage beantworten Kazuhiro Tokuda und sein Mitarbeiterstab mit einem Fachartikel im „Journal of Neuroscience“. Zwar haben sie in ihren Untersuchungen Laborratten zum Trinken animiert, aber die Befunde sind so einleuchtend, dass eine Übertragung auf den Menschen durchaus gerechtfertigt erscheint. Und so könnte das dann aussehen:
Wer viel zu lange viel zu tief ins Glas schaut, der badet auch sein Gehirn in geistigen Getränken. Und da Alkohol ein potentes Nervengift ist, bleibt diese hochprozentige Marinade für den „Kopfsalat“ nicht ohne Folgen. So werden, unter anderem, die so genannten NMDA-Rezeptoren (das sind spezielle Glutamatrezeptoren im Gehirn, die auf den Botenstoff N-Methyl-D-Aspartat reagieren) in ihrer Funktionalität erheblich beeinträchtigt. Dadurch kommt der ansonsten harmonische Chor der Synapsen sowohl aus dem Takt als auch aus der Tonart. Zwar können sich die Synapsen untereinander noch unterhalten, und das machen sie auch – aber es scheppert doch ganz ordentlich in den cerebralen Leitungen. Und diese Störungen veranlassen die trunkenen Nervenzellen dazu, Substanzen auszuschütten, die die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten wirksam verhindern. Die psychophysiologische Folge dieses mutmaßlichen Selbstschutzmechanismus: Man kann sich später an diese Sequenz des eigenen Lebens nicht mehr erinnern. Diese Seite im Lebensbuch bleibt also für immer leer. Es sei denn, man füllt sie mit den (hoffentlich!) amüsierten und verlässlichen Schilderungen von Augen- und Ohrenzeugen.
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Was haben Haarwuchsmittel auf Finasterid Basis damit zu tun?
Bei den tierischen Trunkenbolden in Tokudas Labor hat sich gezeigt, dass eine präventive Gabe von Finasterid dazu in der Lage war, die Produktion und Ausschüttung der körpereigenen „Filmriss-Substanz“ zu unterbinden, so dass der Weg der gelebten Erlebnisse in den Gedächtnisspeicher nicht länger blockiert wurde. Dazu muss man wissen, dass Finasteride Testosteron-Antagonisten sind. Darum werden sie als wirksame Arzneimittel üblicher Weise gegen hormonell bedingten Haarausfall und als Waffe gegen Prostatavergrößerung eingesetzt. Das bedeutet konkret: Wer diese Arznei vorbeugend einnimmt, um sich später wirklich an jedes noch so schmutzige Detail aus eigener mentaler Kraft erinnern zu können, der zahlt dafür einen Preis, bei dem man(n) bis zum Umfallen schwach werden kann.
Dann vielleicht doch lieber einen Filmriss riskieren. Oder, noch besser: Gar nicht erst zum Komakönig hochsaufen.
Weiterführender Link zum Thema:
Kazuhiro Tokuda, Yukitoshi Izumi and Charles F. Zorumski: Ethanol Enhances Neurosteroidogenesis in Hippocampal Pyramidal Neurons by Paradoxical NMDA Receptor Activation. Journal of Neurosciences 31(27):9905-9 (2011) PMID 21734282 (DOI: 10.1523/JNEUROSCI.1660-11.2011)
http://pubget.com/paper/21734282
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