Der Umgangston in der Politik ist rau. Da wirft die eine Abgeordnete (Yvonne Ploetz) der Bundesregierung schon mal „Totalversagen“ vor, der andere (Jan van Aken) tituliert einen Abgeordneten der FDP vom Rednerpult aus als „Macho“. Und wer schon einmal den sogenannten „Wahlabend“ einer Landtagswahl im Konrad-Adenauer-Haus verbracht hat, weiß, dass auch die CDU nicht gerade zimperlich mit dem politischen Gegner umgeht: Verfehlen die Linken die anvisierten Prozentzahlen oder gar den Einzug in ein Landesparlament, brandet in der CDU-Parteizentrale regelmäßig und fast schon reflexartig tosender Applaus auf. Aus anderen Zusammenhängen der Berliner Politbühne sind darüber hinaus Begriffe wie „Wildsau“, „Gurkentruppe“ oder „wild gewordener Gartenzwerg“ überliefert.
Das ganze Jahr über ein einziges Hauen und Stechen? Nein, nicht ganz. Denn zumindest einmal im Jahr treffen sich die Abgeordneten und Mitarbeiter unterschiedlicher, vulgo: ALLER Fraktionen des Deutschen Bundestages zum gemeinschaftlichen Adventssingen. Da singt dann der bekennende Marxist Diether Dehm (Die Linke) ganz einträchtig neben Peter Gauweiler und Johannes Selle von der CDU/CSU-Fraktion. Zusammen mit Jürgen Koppelin (FDP), Josef Philip Winkler (Grüne) und Rüdiger Veit (SPD) bilden die sechs Politiker die so genannte „überfraktionelle Kulturinitiative“, die unter anderem einmal im Jahr zum weihnachtlichen Singen beziehungsweise Musizieren einlädt. Und diese Einladung kommt an: Etwa 200 bis 300 Abgeordnete und Mitarbeitern versammeln sich dann in der riesigen Halle des Paul-Löbe-Hauses, vergessen ihre unterschiedlichen, politischen Auffassungen bzw. Strömungen und schmettern gemeinsam Titel wie „Stille Nacht, heilige Nacht“ oder „Es ist ein Ros entsprungen“.
Manch einer, der die Szenerie an diesem Donnerstag der jeweils letzten Sitzungswoche des Jahres passiert, bleibt auf ein Lied oder zwei stehen. Die meisten nutzen jedoch die komplette, etwa einstündige Veranstaltung und bringen sich mit „Tochter Zion“, „Macht hoch die Tür“ oder „O Tannenbaum“ in Weihnachtsstimmung. „Wir wollen damit vor allem erreichen, dass sich die Kollegen der unterschiedlichen Fraktionen auch persönlich besser verstehen, Kontakte knüpfen und vertiefen können. Außerdem haben wir einfach Spaß am Singen„, sagt Rüdiger Veit, Mitinitiator und Organisator der Veranstaltung. Tatsächlich steht der christliche Glauben bei der Veranstaltung nicht so sehr im Vordergrund. „Auch wer kein ausgesprochener Kirchgänger ist, kann beim Adventssingen mitmachen. Weihnachten ist ja vor allem auch eine kulturelle Veranstaltung, die zu unserem Jahresablauf gehört“ sagt Veit.
Und überhaupt gefallen die Texte der klassischen, deutschen Weihnachtslieder ohnehin nicht allen Beteiligten. Der Abgeordnete Diether Dehm beispielsweise, der als Liedermacher bereits für Joe Cocker, Curtis Stigers oder Ute Lemper geschrieben hat, meint: „Ich finde „Tochter Zion“ ist das musikalisch anmutigste Werk. Ansonsten sind die Texte für mich als Marxist natürlich optimierungsfähig. Wenn ich mich als Texter daran setzen würde, würde der Friedensgedanke zumindest eindrucksvoller. Ich verneige mich vor dem Komponisten natürlich viel tiefer als vor dem Librettisten. Aber das ist ja meistens so, dass das Libretto meilenweit schlechter als die Musik ist.“ Dehm erscheinen die Strophen von Weihnachtsliedern oft redundant und kürzbar. Doch das tut der Stimmung an diesem Donnerstag keinen Abbruch. Der für das Konzert gebuchte, hintere Teil des vollverglasten Paul-Löbe-Hauses (mit Weihnachtsbaum und Blick auf die Spree) ist gut gefüllt. Abgeordnete und Mitarbeiter aller Fraktionen sind gekommen. Einige der Sängerinnen und Sänger tragen gut sichtbar orangefarbene Gast-Ausweise und sind offenbar eigens für diese Veranstaltung angereist. Der Posaunenchor der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg verdichtet sich mit dem bunt geschmückten Weihnachtsbaum zu einer akustisch und optisch ausgereiften Weihnachtskulisse.
Peter Gauweiler liest nach dem Titel „Macht hoch die Tür“ einen kurzen Auszug aus Ludwig Thomas „Heilige Nacht“. Wer jetzt kein bayerisch versteht, ist aufgeschmissen und kann de facto nur noch Wortfetzen erahnen. Doch Gauweiler versichert: „Die Geschichte geht gut aus“. Amüsant und lebendig ist sein Vortrag allemal. Die zwei Prälate der beiden großen Kirchen sprechen später noch nachdenklich stimmende Grußworte, allerdings ohne dabei den mahnenden Zeigefinger zu heben.
Das gemeinschaftliche Weihnachtssingen hat Tradition. Bereits im Jahr 2008 fand es nach einer Idee des ehemaligen Abgeordneten Steffen Reiche (Beruf: evangelischer Pfarrer) erstmalig statt. Seither ist der Termin am jeweils letzten Abend vor der parlamentarischen Weihnachtspause im Terminplan vieler Politiker und Mitarbeiter fix gebucht.
Mittlerweile ist es im Paul-Löbe-Haus 16:31 Uhr geworden. Die letzte Note von „O du fröhliche“ ist verklungen, die einstündige Veranstaltung geht zu Ende. In exakt dieser Minute spricht Ottmar Schreiner (SPD) im Plenarsaal des benachbarten Reichstagsgebäude über die Grundrechte der Beschäftigen von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen. Womit wir jedenfalls ansatzweise wieder im Themenkreis des Weihnachtssingens gelandet wären. In diesem Sinne: Frohes Fest.
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