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Stauvergnügen:

Entschleunigung auf der Autobahn

Stressabbau im StauGemäß einer aktuellen Studie finden wir mehr und mehr Gefallen am Stau. 2011 haben wir uns stolze 450.000 Kilometer Entschleunigung gegönnt. Ein Volksspaß der Extraklasse.

Wer sehnt sich nicht danach, in unserem bisweilen hektischen Alltag ein wenig Zeit für Entspannung zu finden? Ein wenig Zeit, um einfach mal abzuschalten? Diese ewige Hatz, dieses ewige Gerenne von Termin zu Termin kann nicht gesund sein. Nur gut, dass wir unsere Autobahnen haben. Das fast 13.000 Kilometer lange Verkehrsnetz ist nämlich ein Hort der Entspannung, ein Hort kollektiver Entschleunigung. Es gibt wohl keinen anderen Ort in unserem Lande, an dem sich tagtäglich so viele Menschen zwanglos treffen, um für eine Weile das Tempo aus ihrem Alltag zu nehmen, um kollektiv für einige Minuten, manchmal gar für Stunden an einem Fleck zu verharren.

Einige lauschen dabei dem Radio oder ihrer Lieblingsmusik, telefonieren ein wenig oder setzen eine SMS ab. Andere starren gebannt aus dem Fenster und lassen sich von der Mischung aus Asphalt, Beton und bepflanzten Böschungshängen in ihren Bann ziehen. Wiederum andere betätigen sich musikalisch oder sportlich. Sie trommeln mit den Fingern auf dem Lenkrad rum, drücken rhythmisch auf die Hupe oder machen mit den Armen und Händen lustige Gesten, die Richtung Vordermann gerichtet sind und ein wenig an zu schnell ausgeführte Tai-Chi-Übungen erinnern.

Und diese beliebte Form der Zusammenkunft auf der Autobahn hat sogar einen Namen, der ausnahmsweise einmal nicht aus dem Englischen stammt: Stau. Vier Buchstaben, die zum Synonym für ein Massenphänomen geworden sind, bei dem der Hektik des Alltags gemeinsam Einhalt geboten. Nicht von ungefähr wird der Stau immer beliebter. Allein 2011 haben sich die Fahrer auf Deutschlands Autobahnen gemäß ADAC 450.000 Kilometer Stau gegönnt. Das waren immerhin 50.000 Kilometer mehr als noch 2010. Tendenz steigend.

Offensichtlich wollen mehr und mehr Menschen die Gelegenheit nutzen, vom Auto aus die Landschaft zu genießen, statt immer nur mit Vollgas an den Schönheiten der Natur vorbeizurauschen. Zudem ermöglicht der Stillstand ganz nebenbei kleine Sozialstudien zum Beispiel über das Nasenbohrverhalten des Fahrers in der Nebenspur. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Besitzer von Protzkarren ihre Fahrzeuge endlich mal gewürdigt wissen. Denn während sie da rumstehen, haben die anderen Stauteilnehmer die Gelegenheit, neidvolle Blicke auf das Gefährt zu werfen und die eigene Sehsucht nach mehr Sitzkomfort anwachsen zu lassen.

Und weil der Stau mittlerweile zu den beliebtesten Beschäftigungen auf den Autobahnen zählt, etablieren sich neue Berufszweige wie Staufinder. In den Radios des Landes sorgen derweil Staumeldungen für ein nie enden wollendes Gesprächsthema. Und so dürfte es nicht mehr lange dauern, bis die Diskussion um eine Autobahnmaut endgültig vom Tisch ist. Denn in der Tat wäre es viel sinnvoller, von den staufreudigen Fahrern eine Autobahnparkgebühr zu erheben. Schließlich kann es nicht sein, dass das Stauvergnügen einiger von allen anderen Verkehrsteilnehmern mitfinanziert wird.

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Über Karsten-Thilo Raab

Nach seinem Anglistik- und Sportstudium arbeitete Karsten-Thilo Raab viele Jahre als Zeitungsredakteur. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er als Journalist und Autor für eine Vielzahl an Zeitungen, Magazinen und Buchverlagen. Karsten-Thilo Raab berichtet als Journalist, Autor und Fotograf in Wort und Bild über Destinationen weltweit, verfasst daneben Glossen und Kolumnen, veröffentlichte rund 60 Reiseführer und Bücher und wirkte an weiteren rund 70 Büchern und Reiseführern mit.