Wo bleibt Valdemar? Um Punkt sechs warten wir mit ein paar tausend Schweden am Südtor der Stadtmauer Visbys auf Valdemar Atterdag. Der fiese Dänenkönig hatte 1361 die Ostseeinsel überfallen und nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert. Diese traurige Geschichte spielen Schauspieler und Laiendarsteller jedes Jahr im August mir großer Leidenschaft nach.
Zehn Minuten später gilt Valdi immer noch als vermisst. Unter den vielen perfekt verkleideten Skandinaviern fühlen wir uns mit den selbst kreierten Mittelalterumhängen – eigene Felle und ein paar fransige Tischtücher aus den Schubladen von Vermieter Göran – fehl am Platze. Doch keiner achtet mehr auf uns. Endlich pocht es wie wild am Holztor und ein finster blickender König reitet auf seinem Rappen ein. Triumphierend schwingt er einen Riesenschlüssel über dem Kopf. „Hurra“ schreit sein Gefolge, „Buh“ schreien „wir“ Schweden und folgen Ross und Tross bei seinem Zug auf den Stora Market, den Marktplatz. Dort wird die Geschichte von Atterdag bis zum bitteren Ende gespielt. Eine verliebte Jungfrau soll ihm heimlich den Schlüssel zum Stadttor zugesteckt haben. Doch statt eines Aufstiegs zur Dänenkönigin erwartet sie nach Valdemars Abzug ein schauriger Abgang. Nach einer Gerichtsverhandlung mauern die Bürger die Verräterin in einen Turm der Stadtmauer ein.
„Dort seufzt sie noch heute jeden Donnerstag Abend“, erzählt uns Kjell Järebjork schmunzelnd. Der pensionierte Lehrer bietet jeden Freitag eine deutschsprachige Stadtführung an. Da wir jedoch die einzigen Fremdsprachler sind, wandern noch zwanzig Schweden mit und wir dürfen uns die glanzvolle Geschichte Visbys auch auf Schwedisch anhören. Am meisten beeindruckt die komplett erhaltene Stadtmauer, die der 22.000-Einwohner-Stadt zur Karriere als Unesco-Weltkulturerbe verhalf. Die 3,4 Kilometer lange und elf Meter hohe Steinmauer bildet einen schützenden Ring um die Bilderbuch-Altstadt. Hier müssen nicht Hunde, sondern Autos, hässliche Vororte und Supermärkte draußen bleiben.
Statt Valdemar fallen heutzutage die Touristen in Visby ein, darunter viele Kurzbesucher von Kreuzfahrtschiffen. 700.000 Gäste spucken die Fähren jährlich aus, vor allem im Sommer. Die meisten sind Landsleute aus Stockholm und Umgebung. „Fast jeder Schwede kommt einmal im Leben nach Gotland, viele davon zur Mittelalterwoche“, klärt uns Annemarie Thorell auf. Die Marketing Managerin der Gotlands Turistförening weiß auch, warum die Gotländer immer wieder den finstren Valdemar aus der Mottenkiste holen. „Das Mittelalter war die Blütezeit Gotlands. Die Bauern waren frei und reich, der Handel blühte und den Menschen ging es gut“. Insofern erinnern sich die Einheimischen gerne mit Mittelalter-Märkten, -Musicals und Rittertunieren an vergangene Zeiten.
Vom historischen Reichtum zeugen auch die fast 100 Kirchen der Ostseeinsel. Jede alte Gemeinde erbaute zwischen 1100 und 1350 ihre eigene Kirche. Klein, fein und vor allem aus Stein. In den schön schlichten Gotteshäusern findet alle zwei Wochen ein Gottesdienst statt. Die Gotländer sind religiös. Kein Wunder. In der flachen, weiten Landschaft des Eilands wirkt der Himmel mächtig groß und der Mensch etwas verloren. Auch die vielen Seefahrer und Fischer brauchten in stürmischen Zeiten göttlichen Beistand. Fehlte der, versank schon einmal eine ganze Schiffsmannschaft, wie auf alten Grabsteinen nachzulesen ist.
Im August wirkt die Ostsee, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Majestätisch ruhig und silbrig glänzend schwappt sie sanft ans Ufer. „Komm baden“, ruft jede kleine Welle an den zahlreichen Stränden der Sonneninsel. Der Vorzeigestrand ist Tofta im Nordwesten. Hier gibt es feinen Sand mit Mallorcafeeling. Boote zum Ausleihen, jede Menge Buden und eine Band sorgen im Sommer für Trubel. Der Strand vor unserer Ferienhaustür hat eher einen rauen, nordischen Charme. Da Steine den sanften Einstieg ins Meer verhindern, führt ein Holzsteg in die Fluten. Wer sich dann die Leiter hinunterwagt, wird mit einem buchstäblich einmaligen Erlebnis belohnt. Bei 14, 15 Grad Wassertemperatur ist Überwindung Alles: Eine kleine Runde, und die Mutprobe ist bestanden.
Außer Eisbaden und Golfen gehen die Gotländer gerne reiten. Brav trotten unsere stämmigen Isländer über Stock und Stein, durch Feld und Wald. Keine Bremse bringt sie zum Mucken, kein Wasserloch aus dem Tritt. Diese Gelassenheit aller Gotländer Lebewesen tut einfach gut. Keine Hast und Drängelei auf der Straße, keine Angst vor Autoknackern und Fahrraddieben. Auf dem Land lassen die Leute sogar ihre Häuser offen. Nicht umsonst haben die Gotländer das Schaf als Wappentier auserkoren. Anstrengend wird die Gelassenheit höchstens einmal, wenn man im Schnellimbiss mit hungrigen Kindern zwanzig Minuten auf seinen „Hamburgare“ wartet und wartet. Oder Valdemar einfach nicht kommen will.
Allgemeine Informationen und Quartiere: www.gotland.info
Reiseführer: Rasso Knoller, Insel Gotland, Reise know-how Verlag Peter Rump GmbH,
ISBN 3-8317-1234-4, Preis: 14,90 Euro.
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