In der Geschichte der Bundesrepublik spiegelt sich die Einstellung zur Gesellschaft in erstaunlicher Weise im Wandel der Krawattenmode wider. Da ist zunächst die auf Sicherheit und Ordnung ausgerichtete Nachkriegsgesellschaft mit ihren konservativen Krawattenmustern. Anpassung ist angesagt. Mit den Generationenkonflikten Ende der 60er- Jahre wird dann alles vielfältiger und bunter: In der Wohlstandsgesellschaft ist Anpassung nicht mehr gefragt. Die Phantasie hat freien Lauf. Ob Anpassung oder Ablehnung: erlaubt ist, was gefällt. Die Soziologen rauften sich die Haare. Und heute? Befreit vom Ballast „Anpassungssymbol“ ist die Krawatte nicht nur typisches Karrieresymbol, sondern auch Mittel zur persönlichen Selbstdarstellung.
Die Krawatte wird in ihrer heutigen Form seit Anfang des 20. Jahrhunderts getragen. Sie hat ihren Ursprung in dem breiten Halstuch mit herabhängenden Enden, das kroatische Truppen im 17. Jahrhundert in Frankreich trugen.
Die 50er-Jahre: „Keine Experimente!“
Nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges ist das Sicherheits- und Anpassungsbedürfnis in der Bundesrepublik groß. Mit dem Motto „Keine Experimente!“ werden Wahlen gewonnen. Und wie häufig in Nachkriegszeiten legt man auf die Beachtung althergebrachter Konventionen größten Wert.
Konventionen schaffen jene Sicherheit, die man lange vermisst hat. Entsprechend sind korrektes Benehmen und korrekte Kleidung „in“. Anstandsbücher finden reißenden Absatz. In ihnen kann jeder nachlesen, wie er sich zu erhalten und zu kleiden hat. Natürlich wird in ihnen auch die Krawatte behandelt – ausführlich sogar. Unauffällig hat sie zu sein. Dem Anzug dezent angepasst. Ob ins Büro, zum Sport, zum Dinner oder auf Reisen: für jede Gelegenheit gibt es die passende Empfehlung. Individuelle Abweichungen sind nicht erwünscht.
Das Halstuch stellte immer schon eine Alternative zur Krawatte dar. Es war gleichsam „die Krawatte“ des unteren Standes sowie von Freigeistern und Künstlern. Durchsetzen konnte es sich bei den Wohlhabenden kaum, weil es nicht zu den Halskrausen und breiten Spitzenkrausen des 16. und 17. Jahrhunderts passte.Als soziales und politisches Gesinnungszeichen wurde das Halstuch während der französischen Revolution von Künstlern und Anhängern der Aufklärung getragen. Selbst im 19. Jahrhundert lief die willkürliche Bindeform des Halstuches und der lockere Fall der Auffassung einer exakten Herrenmode mit korrekt sitzenden Accessoires zuwider.Erst 1930 gewann das Halstuch in der eleganten Herrenmode an Bedeutung. Als „Cachenez“ wurde es in Weiß zu allen eleganten Herrenmänteln getragen. Nach und nach ersetzte das Halstuch die Krawatte in der Sportbekleidung der Oberschicht, beim Segeln und beim Tennis. Durchgesetzt haben sich heute der Ascot-Schal und der Shorty (Kurzschal), die sich im Zuge der Entwicklung der Citymode hin zur Casualmode immer größerer Beliebtheit erfreuen.
Die 60er-Jahre: Krawattentragen wird zur Gesinnungsfrage
Als sich dann Ende der 60er-Jahre in gesicherter politischer und materieller Lage der Generationenkonflikt in Studentenunruhen entlädt, ist das alles plötzlich ganz anders. Die Krawatte ist als Anpassungssymbol verpönt. Und deshalb sind Krawattenträger grundsätzlich erst einmal verdächtig. Nur „Anpasser“ tragen Krawatten!
Damit wird das Tragen und Nichttragen von Krawatten zur Gesinnungsfrage. Manch einer lockert da lässig den Knoten oder legt die Krawatte ganz ab. So auffällig bisher Anpassung demonstriert wurde, so auffällig demonstriert man jetzt Ablehnung und Abgrenzung. Der Druck, sich gruppenkonform zu verhalten ist auch bei den Nonkonformisten enorm. Wer zu ihnen gehören will, muss sich ihren Regeln anpassen. Wehe, man erscheint bei ihnen mit einer Krawatte!
Ist das der Niedergang der Krawatte? Keineswegs! Letztlich ist das alles schon einmal dagewesen. „Buddenbrookdynamik“ heißt das literarische Beispiel, wenn sich die materiell gesicherte Generation vom Geldverdienen abwendet und abgrenzt. Ihre satten und selbstzufriedenen Eltern verachtend, strebt sie nach gesellschaftlicher und sozialer Stellung. Aber schon die folgende Generation hat ganz andere Neigungen. Da ihre Familie im Wohlstand lebt und jetzt auch noch soziales Prestige genießt, wendet sie sich von den klassischen gesellschaftlichen Konventionen ab und der Kunst (siehe Buddenbrook) oder einem „freieren“ leben zu. So ist der nächste Generationenkonflikt und damit der nächste Modewandel vorprogrammiert.
Die 70er-Jahre: Die Jugend entdeckt die Krawatte
Auf ihn brauchen die Modemacher diesmal nicht lange warten. Um 1970 entdeckt die Jugend die Krawatte als betonenden Blickfang neu – als ein Accessoire, das sie ideal zur Selbstdarstellung nutzen kann. Sie kokettiert mit Farben und Dessins. Und sie erkennt: Es wäre dumm, auf ein derart wirkungsvolles Attribut mit einer so reichhaltigen Farbskala in den Dessins zu verzichten. Man muss es nur anders machen. Darauf kommt es an. Und so wird ihre Krawatte „schockierend“ breit. Bis zu zehn Zentimeter misst sie jetzt. Vor allem grenzt man sich mit Pop- und Op-Art-Mustern, mit Schmetterlingen, Elefanten und Autos in poppigen Farben ab. Auf den ersten Blick ist zu sehen: Diese Krawatte ist nicht das Attribut der Etablierten.
Aber auch das ist nicht neu in der Modegeschichte. So warfen sich zum Beispiel die Freigeister der Romantik ihre Halstücher nur in nachlässigem Bogen und mit Falten um den Hals oder ließen nur den Hemdkragen über den kurzen Rockkragen auf die Schulter fallen – und zwar ganz gegen die strengen Sitten der Zeit. Das war eine Herausforderung! Friedrich Wilhelm III hat sie entsprechend als aufrührerisch verboten.
Die 80er- und 90er-Jahre: Die Krawatte als Statussymbol
In den 80er- und 90er-Jahren verzeichnet die Krawatte wieder einmal einen Aufschwung. Eine große Rolle spielen dabei einerseits der gesteigerte Anpassungsdruck und die Ausweitung der Arbeitslosigkeit und andererseits das zunehmende Karrierebewusstsein vieler junger Leute. Kurzum: Die Krawatte wird wieder einmal als Statussymbol gebraucht. Für die Mode ist dieser Umschwung ein wahrer Glücksfall.
Für die Jugend gelten jetzt die Batik-, Strick- und Lederkrawatten als Alternativen zu den „spießigen“ Seidenkrawatten. Besonders die Lederkrawatte wird zum Symbol für Junggebliebene und solche, die sich gerne mit diesem Attribut schmücken wollen.
Das neue Jahrtausend
Befreit vom Ballast „Anpassungssymbol“ ist die Krawatte heute ein typisches Karrieresymbol. Sie steht für Tüchtigkeit am Arbeitsplatz und für Karriere am Schreibtisch. Für viele gehört die Krawatte ganz einfach zur persönlichen Selbstdarstellung.
Allerdings hat sich manches geändert. War sie früher noch Ausdruck konservativer Denkungsart, so hat sie jetzt die für die moderne Karriere so wichtig gewordene Individualität zu unterstreichen. Mit ihr grenzt man sich von der Karrierekonkurrenz ab. Das allerdings setzt Geschmack voraus. Wer ihn nicht hat, begibt sich in Gefahr, sich lächerlich zu machen.
Die Krawatte stand und steht für Seriosität und Beachtung gesellschaftlicher Konventionen in der europäischen Kultur. Auch heute gilt: Wer dazugehören will, trägt sie. Wer sich abgrenzen möchte, lässt sie weg.
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