Manchmal kann Musik auch mehr sein, als das Zusammenspiel bloßer Töne, nämlich genau dann, wenn sie auch weitaus mehr zu bewegen vermag als die Füße des Hörers auf der Tanzfläche oder das Gefühl beim Lauschen und vielmehr selbst zum Gefühl wird, indem sie eine eigene Subkultur nicht nur durch kurze Hysterien aufblitzen lässt, sondern dauerhaft prägt. Die Rede ist von den britischen Avantgarde Künstlern „Throbbing Gristle“, die genau das zuvor beschriebene schafften und die Industrial Music zum Leben erweckten.
Die Sender müssen schweigen
Wörtlich übersetzt heißt Throbbing Gristle „pochender Knorpel“ und der Ausdruck bezeichnet im englischen Yorkshire umgangssprachlich nicht mehr und nicht weniger als einen erigierten Penis. Schon die Namenswahl deutet die Richtung an, die Throbbing Gristle eingeschlagen hatten und zeigt auf Provokation. Doch keineswegs stumpf, platt oder primitiv, wie es in der modernen Pop-Musik gepflegt wird, sondern tiefgründig, intelligent und mit Statement. Dass diese Behauptung nicht aus den Fingern gesogen wird zeigt schon alleine die nachhaltige Kultur, welche die vier britischen Gründungsmitglieder der Band Chris Carter, Peter Christopherson, Genesis P.Orridge und Christine ‚Cosey Fanni Tutti‘ Newby einläuten sollten.
Dabei ging Throbbing Gristle zunächst nur als Nebenprojekt der Aktionskunstgruppe „Coum Transmissions“ hervor, die Ende der 1960er Jahre von Genesis P. Orridge und Christine Newby gegründet wurde. Coum Transmissions erhielten 1969 die Genehmigung für eine Ausstellung im Londoner Institute of contemporary arts, in einem staatlichen, renommierten und angesehenen Haus für zeitgenössische Kunst also. Trotz des Namens der Ausstellung „Prostitution“, ahnten die Verantwortlichen dabei vermutlich nicht, welch Skandal da auf sie zukommen sollte. Denn die Ausstellung, die ja indirekt von den britischen Königin finanziert wurde, zeigte allerlei unflätige Utensilien, wie gebrauchte Tampons, Ausschnitte aus Pornomagazinen, alles begleitet von einem Auftritt einer Stripperin, der Punk Band LSD und zu guter Letzt natürlich von der ersten Show der frischgebackenen Band Throbbing Gristle. Die gesamte Ausstellung hatte einen Skandal von nationalem Ausmaß provoziert, wurde im britischen Parlament diskutiert und der Abgeordnete Nicholas Fairbairn brüskierte sich über die Aktionskunst, indem er die Künstler selbst als „Zerstörer der Zivilisation“ betitelte.
Die Zerstörer der Zivilisation
Obwohl der Skandal natürlich bewusst inszeniert wurde, ging es nicht um kleingeistige Verkaufszahlen irgendwelcher Platten – die gab es zu dem Zeitpunkt nämlich noch gar nicht – sondern um ein intellektuelles Statement, welches das Interesse an Information bekundete und weniger an Musik als solcher. Die Zerstörer der Zivilisation erklärten grob ausgedrückt der Manipulation durch Massenmedien den Informationskrieg und wer das voller Hoffnung für einen schlichten Werbegag hielt, wurde bitter enttäuscht. Denn nach dem Skandal in dem Londoner Kunsthaus fanden Throbbing Gristle in der Musik eine größere Zuhörerschaft als Coum Transmissions durch das Sprachrohr der Kunst und so wurde kurzerhand ein eigenes Plattenlabel mit dem Namen „Industrial Music“ gegründet. Unter dem Banner „Industrial Music for Industrial People“ veröffentlichten Throbbing Gristle, übrigens oftmals auch nur TG genannt, ihre Werke in kompletter Eigenregie und nahmen weitere Musikkünstler unter Vertrag, die den Informationskrieg unterstützen. Selbstverständlich war der Krieg als solcher ein künstlerischer, wie intellektueller, aber in seiner Radikalität durchaus kompromisslos. Die Industrialkünstler überspitzten die Realität und radikalisierten sowohl die Ästhetik ihrer Kunst als auch die Musik selbst. So arbeiteten Throbbing Gristle zunächst ausschließlich mit avantgardistischen Mitteln. Sie nutzten Synthesizer, monotone Bassläufe, arbeiteten mit Schleifen und Verzerrungen und erfanden gar eigene Gerätschaften, um ihre Musik effektiv zu „stören“. Textlich hielten sie sich überwiegend an reale Geschehnisse, Themen waren Serienmörder, Krieg, Gewalt, Verrohung, Sexualität und so weiter und so fort, das Ganze in Form von Sprachfetzen originaler Aufnahmen, sogenannten Spoken Words oder verzerrtem Geschrei. Auch fernab der Texte waren Throbbing Gristle nicht zimperlich. Auftritte in Uniform, das Nutzen Dritter Reichs-Symbolik und wüste Beschimpfungen des eigenen Publikums standen an der Tagesordnung. Doch wer sich im Kampf gegen Kommerz, Konsum, Desinformation und Manipulation befindet, kann sich schlecht des Schlagers bedienen, also war zur Bewegung gleichzeitig auch eine „neue“ Musikrichtung entstanden, die eigentlich gar keine war, sondern prinzipiell unabhängig vom musikalischen Kontext entsprechend des Label namens einfach als Industrial Music bezeichnet wurde.
Getrennte Wege und der moderne Industrial
Die vier Individualisten veröffentlichten einige Alben, Singles und absolvierten eine Menge an Konzerten, doch nach nur wenigen Jahren trennten sich die Wege der Künstler und führten zu anderen Projekten. Chris Carter und Cosey Fannni Tutti arbeiteten gemeinsam als „Chris & Cosey“ weiter und Genesis P-Orridge und Peter Christopherson gründeten zusammen mit Alex Fergusson die Band „Psychic TV“, die für einige Jahre die Tradition von Throbbing Gristle fortführen wollte. Im Jahre 2005 gab es eine Wiedervereinigung der Band, doch schien die „Luft irgendwie raus zu sein“ und Genesis P. Orridge verließ die neu formierten TG nach fünf Jahren wieder. Nach dem Tod von Peter Christopherson am 24. November 2010 wird Throbbing Gristle für immer der Vergangenheit angehören. Doch die Industrial Culture lebt weiter, wenn auch nicht mehr mit der Energie und Anhängerschaft von früher.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten und auch die plumpe Kategorisierung unter Berücksichtigung gewisser Regeln wäre kaum im Sinne von Throbbing Gristle oder der Industrial Bewegung, dennoch haben die modernen Stilrichtungen, die sich zum Teil aus dem Rock und zum anderen aus der elektronischen Clubmusik entwickelten nicht ansatzweise etwas mit dem ursprünglichen Geist der Industrias gemein. Stumpfes Gestampfe und Pseudo-Provokation sind zu einem Trend geworden, dem teils blind gefolgt wird, als scheinbares Auflehnen gegen Konventionen, aber gleichzeitigem Hochalten eigener „Sub“-Standards, wie einer Quasi-Kleiderordnung mit Gasmasken und strengen Regeln des Industrial-Dance. Als moderne Jugend-Subkultur mag natürlich auch das seine Daseinsberechtigung haben, aber mit Industrial hat das herzlich wenig zu tun. Hier und da kann man noch einen kurzen Schrei nach „wahrem Industrial“ hören und zwischen der modernen Hörerschaft noch hartnäckige Puristen finden, die ihr graues Haar zu verstecken suchen. Aber es ist eben das Schicksal jeder Bewegung, dass sie irgendwann stehen bleibt und die Seele des Industrial hat schon längst ihren Körper verlassen – im großen Stil jedenfalls. Denn am Rande gibt es sie noch immer, die „Industrial People“ und das ist auch gut so.
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