Wer in einer Butoh Vorstellung gelandet ist, ohne zu wissen, was ihn genau erwarten würde, könnte ein wenig verstört im Zuschauerstuhl zurück bleiben und sich noch eine Weile über das düstere Spektakel wundern, das sich da auf der Bühne abspielte, wo meist finster geschminkte und gekleidete Menschen ihre Körper zu oftmals ebenso finsterer, teilweise treibender Musik in beinahe gebärdender Manier durch die Luft räkeln. Schnell wird klar, dass die Enttäuschung groß sein wird, wenn man bei diesem Tanztheater japanischen Ursprungs eine kunterbunte Vorstellung zur guten Unterhaltung erwartet. Denn Butoh ist Kunst, welche die Grenzen der Ästhetik sprengt und Tabuthemen in abstrakter Weise zum Ausdruck bringt.
Den inneren Protest nach außen tragen
Der Name setzt sich aus Bu, zu Deutsch tanzen, und boh zusammen, was so viel heißt wie „auf den Boden stampfen“. Ursprünglich heißt die Tanzform eigentlich „Ankoku Butoh“, was mit „Tanz der Finsternis“ übersetzt werden kann und das Wesen des Ausdruckstanzes ganz gut trifft. Viel mehr ist als Definition für die japanische Tanzkunst auch gar nicht möglich, weil sie mehr durch Philosophie, denn starren Formalismus geprägt wurde.
Im Jahre 1949 hatte der Japaner Ono Kazuo seine erste öffentliche Tanzvorführung. Seine Darbietung ließ sich allerdings nicht in bekannte Schemen einordnen, sondern war vom deutschen Ausdruckstanz der 1930er Jahre ebenso stark geprägt, wie vom Grauen des Zweiten Weltkrieges. Der japanische Militärdienst an der Front und zwei US-amerikanische Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki hinterließen ihre Spuren bei dem jungen Künstler, der eigentlich Sport studierte. In seiner Tanzvorführung entlud der junge Künstler seine Emotionen, die aus einer Mischung von Trauer, Wut und Protest bestanden und ungefiltert seinen Körper verließen. Für viele Zuschauer war diese Form des Tanztheaters zunächst eher abschreckend, jedoch nicht für den Tänzer Tatsumi Hijikata, der sich zu jenem Zeitpunkt im Publikum befand. Hijikata gilt als Vater des Butoh und lud Ono Kazuo im Anschluss an die bewegende Vorführung in sein Tanzensemble ein. In den folgenden Jahren arbeiteten Hijakata und Kazuo intensiv zusammen und verliehen dem Butoh das Gesicht, das es noch heute besitzt.
Der Tanz der Seele
Hijakata betrachtete Butoh als die Befreiung des wilden Tieres, das in jedem von uns wohnt. Es ging ihm nicht darum, ästhetische Bewegungen zum Amüsement des Zuschauers zum Besten zu geben, sondern vielmehr darum, sich auch mit der wilden, ungezähmten Seite der Seele anzufreunden. Entsprechend ist Butoh auch eine Art Widerstand gegen moderne, regelbehaftete Gesellschaften, ein Weg aus dem Dunkel in das Licht, der Ausdruck des Seins in all seinen Facetten. Dazu gehören Tod und Perversion ebenso, wie Absurdität und Angst, wobei letztere durch den Tanz aufgelöst werden soll, ebenso wie auferlegte Grenzen. Denn für Hijakata bedeutete konventioneller, technisierter Tanz die Bezwingung und Bedrängung des Körpers von außen, während Butoh die Befreiung des Fleischlichen von innen darstellt.
Ono Kazue verglich Butoh mit einem Baum, dessen feines, zerbrechliches Geäst nur so schön in die Luft ragen kann, weil tief im Boden, eine feste, vergleichsweise hässliche Verwurzelung existiert. In gleichem Maße muss der Tanz in den alltäglichen Tiefen der Existenz verwurzelt sein, um seine Schönheit zu entfalten. Ono sieht eine Analogie zum „toten Körper“, in den der Tänzer seine Emotion projiziert, sich von physischer und sozialer Identität löst und dadurch wen Weg frei macht, seine Seele die Bewegungen Formen zu lassen, so wie die Fäden die Bewegung der Marionette formen. Entsprechend ist der Butoh Tanz auch vollkommen losgelöst von Talent, körperlicher Verfassung und Motorik, was sich nicht zuletzt darin widerspiegelt, dass Ono Kazue noch mit 90 Jahren auf der Bühne stand. Im Jahr 2010 verstarb er im Alter von 103 Jahren.
Vermischung der Kulturen
Butoh ist also keine Zurschaustellung dunkler Ästhetik, sondern zeugt von tief verwurzelter Finsternis, die sich um Schmerz, Leid, Angst und Tod dreht, um sämtliche Gegenstücke des Lichts also, um in dieses geläutert wieder eintreten zu können. Für viele mag die Thematik und Philosophie des Butoh auf den ersten Blick ein wenig abschreckend wirken, doch hat der Ausdruckstanz bis heute viele andere Tänze und Kunstformen beeinflusst, auch wenn man es diesen nicht auf den ersten Blick ansehen sollte. Wo man es hingegen sehr gut sehen kann, ist bei der deutschen Ausnahmekünstlerin Anna-Varney Cantodea. Bei der Künstlerin handelt es sich augenscheinlich um eine als Mann geborene Frau, die mit ihrem Projekt „Sopor Aeternus and the Ensemble of Shadows“ die düsteren Butoh-Welten isoliert, erweitert und intensiviert. In Verbindung mit der oft als klagenden Kammergesang beschriebenen Musik entsteht eine finstere Auseinandersetzung mit Tabuthemen, wie Tod, Transsexualität, Sterbehilfe, Selbstmord und Nekrophilie. Dabei handelt es sich laut Anna-Varney Cantodea selbst aber weniger um aufgesetzte Provokationselemente, wie sie in Subkulturen gerne benutzt werden, um Aufmerksamkeit zu erregen, sondern um echte Auseinandersetzungen. Denn von einigen Themen ihrer Kunst ist sie selbst betroffen und sieht ihr Schaffen als Therapie für die eigene Seele. Dabei entsteht ein morbides Gesamtkunstwerk aus Musik, Text und Fotografie, das in dieser ausgeprägten Form wohl einzigartig sein dürfte.
Fotos: Anna-Varney Cantodea, Sopor Aeternus ©
Interessante Links zum Thema:
Ono Kazuo:
http://www.youtube.com/watch?v=ZUjhQLB0hXY&feature=related
Tatsumi Hijikata:
http://www.youtube.com/watch?v=3xYsO7OpQkQ
Sopor Aeternus:
http://www.youtube.com/watch?v=cklAulDyuow&feature=related
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