Unser Alltag wie auch unsere Freizeit werden dominiert von gesellschaftlichen Normen, familiären Bindungen, verwandtschaftlichen Pflichten und der ständig im Vordergrund stehenden Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt angemessen zu bestreiten. Dementsprechend finden wir uns in einem Dickicht aus Konventionen, Kommunikationszwang und Konsumorientierung gefangen, wobei uns diese Gefangenschaft aufgrund ihrer steten Omnipräsenz bereits so vertraut und gewohnt ist, dass wir ihre restriktiven Fesseln schon gar nicht mehr als Freiheitsberaubung wahrnehmen. Das ewige Rattenrennen ist uns längst in Fleisch und Blut übergegangen. Ist das aus psychischer Sicht nun ein Fluch oder ein Segen? Auf jeden Fall können gut und stabil funktionierende Gesellschaften auch gänzlich anders aussehen, wie das eindrucksvolle Beispiel der Pirahã-Indianer zeigt. Zum Glück muss man nicht in den brasilianischen Dschungel reisen, um diese außergewöhnliche Lebensform kennenzulernen; ein Besuch in der gut sortierten Buchhandlung ist hierfür absolut ausreichend.
Für Zahlen fehlen den Pirahã die Worte
Daniel Everett, Autor des Buches „Das glücklichste Volk: Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas“, hatte ursprünglich vor, den heidnischen Pirahã seinen christlichen Glauben und seinen Gott nahe zu bringen. Doch diese Unternehmung schlug gründlich fehl, da Everett den Pirahã einen belastbaren Beweis der Existenz seines Gottes schuldig bleiben musste. Was in unseren Breiten der Begeisterung für die Besuche in Gotteshäusern keinen Abbruch tut, wird am Amazones deutlich enger gesehen. Hier gilt nämlich in aller Pragmatik und ohne Ausnahme: Nur Sehen macht Glauben. Und so blieb Everett nichts anderes übrig, als seine in missionarischer Hinsicht komplett erfolglose Anwesenheit im tiefsten brasilianischen Dschungel wenigstens dazu zu nutzen, diese außergewöhnlichen und extrem archaisch organisierten Menschen besser kennenzulernen. Dazu war es selbstverständlich notwendig, die Sprache der Pirahã zu erlernen. Dabei stelle Everett zu seiner maßlosen Verblüffung fest, dass diese Indianer keine Zahlbegriffe haben, und dementsprechend weder zählen noch abzählen oder gar rechnen können. Und das scheint ihnen in ihrem Lebensvollzug auch nicht zu fehlen. Außerdem haben die Pirahã auch keine Worte für Farben und besitzen des Weiteren auch keinerlei sprachliche Kompetenz, sich Fantasiewelten auszudenken, oder über Ereignisse zu sprechen, die ihnen nicht unmittelbar selbst widerfahren sind. Und selbst persönliches Besitztum ist ein völlig unbekanntes Konstrukt, das weder in der Sprache noch in der Denke der Pirahã vorkommt. Kein Wunder, dass Everett von so viel praktizierter Weltabgewandtheit und funktionaler Primitivität restlos fasziniert war. Nach all seinen langen, intensiven und oft auch unsäglich schmerzlichen Begegnungen mit den Pirahã hat Everett mit einem spannenden Buch beredtes Zeugnis darüber abgelegt, dass es keiner interstellaren Reise zu fernen Planeten bedarf, um fremde Lebensformen zu entdecken.
Wer gerne liest, Spaß an anthropologischen Abenteuern hat und seinen Horizont in Sachen Homo sapiens gerne mal um ein paar exotische Facetten erweitert, der wird dieses packende Buch so schnell nicht wieder aus der Hand legen. Und nach der Lektüre die Gelegenheit dazu haben, den eigenen Lebensstil auf einer völlig neuen Wissensbasis kritisch zu hinterfragen.
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