Manche schwören auf eine autoritäre Erziehung mit strenger Hand, die den Schülern nicht nur den Weg aufweist, sondern vor allem auch aktiv in geregelte Bahnen lenkt und dadurch Disziplin und Ordnung lehrt. Doch andere halten von dieser Art der Pädagogik nicht viel und setzen auf freiere, innovativere Methoden den Kindern Wissen und soziale Kompetenzen zu vermitteln, beispielsweise durch die Waldorfpädagogik. Doch obwohl die besondere Form des Lehrens und der Erziehung einigen Zuspruch findet und bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts praktiziert wird, ist diese kaum verbreitet und bei vielen auch gar nicht so recht bekannt. Grund genug, die Waldorfschulen einmal ein bisschen näher zu betrachten.
Die erste Waldorfschule
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hielt der österreichische Esoteriker und Philosoph Rudolf Steiner Vorträge zur Erziehung von Kindern, die von geneigten Hörern bereits als interessantes Modell wahrgenommen wurden. Die Methoden, die Steiner präsentierte beruhten auf der von ihm begründeten Anthroposophie, die den Menschen nicht isoliert betrachtet, sondern im Kontext zum Übersinnlichen. Die Anthroposophie ist dabei eine Mischung aus deutschem Idealismus als philosophische Disziplin, der Weltanschauung Goethes, fernöstlicher Lehren, der Gnosis und wissenschaftlichen Erkenntnissen der damaligen Zeit, also Ende des 19. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Entsprechend ist Steiners Lehre keine engstirnige Ideologie, sondern vielmehr ein Sammelsurium positiver Eigenschaften verschiedener Ansichten und Lehren, die zu einer eigenen verschmolzen sind. Die heute weltweit anerkannte Anthroposophie wirkte sich auf verschiedene Lebensbereiche aus, zu denen die Kunst oder Architektur ebenso zählte, wie zum Beispiel auch die Medizin, die Landwirtschaft und die Religion oder eben auch die Pädagogik, die als Waldorfpädagogik in die Geschichte eingehen und bis heute viele Anhänger finden sollte.
Ihren namensgebenden Ursprung findet die Waldorfschule in einem Auftrag der deutschen Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik. Deren damaliger Direktor Emil Molts bat Rudolf Steiner eine firmeninterne Schule auf die Beine zu stellen, die den Kindern der beschäftigten Arbeiter gerecht werden konnte. Steiner nahm den Auftrag an und unterrichtete das vorgesehen Lehrerkollegium in der Pädagogik seiner Anthroposophie. Bis zu seinem Tod im Jahr 1925 war Rudolf Steiner geistiger Führer dieser als schulgeschichtlich gesehenen ersten Gesamtschule. Den Namen Waldorfschule erhielt das Bildungssystem des Rudolf Steiner also tatsächlich aufgrund der Zigarettenfabrik aus Stuttgart. Die pädagogischen Erfolge der Waldorfschule machten schnell von sich reden, sodass das System über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt wurde und sich 1928 bereits Einrichtungen nach gleichem pädagogischem Prinzip unter anderem in London, New York, Lissabon oder auch Basel wiederfanden.
Der Mensch im Mittelpunkt
Rudolf Steiner entwickelte in seiner Anthroposophie das sogenannte Bild der sozialen Dreigliederung. Diese bestand aus der kulturellen Freiheit, der politischen Gleichheit und der wirtschaftlichen Brüderlichkeit. Der Mensch an sich wird dabei als Ganzes betrachtet und sollte nicht scheibchenweise in die Anforderungen einer aufstrebenden, industriellen Leistungsgesellschaft gepresst werden. Steiners Pädagogik wandte der bisherigen Methodik aus Qualifikation, Reproduktion und Selektion also den Rücken und schnitt die Lehrinhalte auf die Bedürfnisse der Kinder zu, anstatt wie üblich die kindliche Entwicklung in vorgefertigte Bahnen zu lenken. Dabei bildeten nicht nur die drei Pfeiler der sozialen Dreigliederung die Basis, sondern auch die Einteilung des Menschen in Geist, Seele und Leib. Die Seele selbst wurde wiederum in die sogenannten Seelenfähigkeiten Denken, Fühlen und Wollen gegliedert. Zu den Dreigliederungen kam nun noch der stark esoterische Aspekt der Viergliederung. Bei dieser Unterteilung wurde unterschieden zwischen:
- dem physischen Körper des Menschen
- dem Astralleib als Träger des Seelenlebens
- dem Ätherleib als Träger der Wachstumskräfte
- sowie dem Ich als geistiger, unsterblicher Kern des Menschen.
Entsprechend Steiners Lehre, wird jeder der zusätzlichen drei Aspekte geboren, wie auch der Körper geboren werde. Die Zeitspanne teilte er dabei in sieben Jahre ein, weshalb die Entwicklungsstufen der Kinder in der Anthroposophie auch als Jahrsiebte bezeichnet werden. Für die Waldorfpädagogik ist das zweite und dritte Jahr, also die Geburt des Äther- und Astralleibes von Bedeutung, da diese exakt in die Schulzeit der Kinder fallen. Was nun aber extrem kompliziert und esoterisch klingen mag, ist in seiner Kernaussage nicht mehr und nicht weniger, als eine kompromisslose Entfaltung der Persönlichkeit, wobei die Lerninhalte stets der Persönlichkeit entsprechen und diese nicht behindern sollten. Noch vereinfachter ausgedrückt sollen die Kinder genau das lernen, was sie wollen und nicht das, was sie müssen. Für Liebhaber der autoritären Pädagogik sicherlich ein hartes Brot, doch zeigt sich in der Praxis, dass die Leistungen der Kinder enorm steigen, wenn sie auf echtem Interesse beruhen und nicht wie in der gewöhnlichen Schule auf Zwang und Druck.
Praktische Ausführung
Die Waldorfschulen setzen auf die Dreigliedrigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens der Theorie, was sich in der Praxis wie folgt übersetzen lässt. Das Denken findet seine Ausbildung in der intellektuell-kognitiven Ausführung, sprich im gewöhnlichen Lehren von Theorien, wie wir es alle aus der Schule kennen. Da Steiner hierin aber nur einen Teilaspekt des Menschen sieht, kommen die zwei anderen Punkte als gleichberechtigt hinzu, nämlich das Fühlen in Form von künstlerisch-kreativen Lerninhalten und das Wollen als handwerklich-praktische Komponente.
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Auf dieser Grundannahme beruhend gliedern sich auch der Unterricht und die Methodik der Waldorfschulen. Der Unterricht selbst ist in Hauptunterricht und Fachunterricht unterteilt. Der Hauptunterricht umfasst ein grundlegendes Fach, wie Deutsch oder Mathematik, und wird mehrere Wochen am Stück unterrichtet. Verantwortlich dafür ist ein Klassenlehrer als Generalist, der den Schülern acht Jahre lang erhalten bleibt und nicht nur eine fachliche und fachspezifische, sondern auch eine umfassende und wegweisende zwischenmenschliche Beziehung zu seinen Schülern aufbaut. Begleitet wird dieser zweistündige Hauptunterricht am Vormittag von Fachunterricht, der in gewohnter Weise von Fachlehrern unterrichtet wird, sich aber nach den Interessen der Kinder richtet. Dies können je nach Talent dann Gymnastik oder auch Schreinerei sein, wobei der genaue Lehrplan dezentral von den einzelnen Waldorfschulen erarbeitet wird und keine festgelegte Themen mit bestimmten Zielen verfolgt, sondern in hohem Maße vom Lehrer und dem jeweiligen Schüler abhängt.
Ferner werden in einer Waldorfschule keine Leistungsdifferenzierungen in Form von Schulnoten oder verschiedenen Kursen vorgenommen, sondern bis zur Oberstufe alle Schüler ganzheitlich erzogen und bewertet. Das klassische „Sitzen bleiben“ gibt es auf der Waldorfschule nicht. Hinzu kommen einige weitere Aspekte, welche die Waldorfpädagogik zu dem machen, was sie ist, doch sollte bereits bis hierher klar geworden sein, dass diese besondere Art der Schulen eben keine „Handwerker“ ausbilden oder „Banker“, sondern Menschen, in ihrer Gesamtheit, die mit ihren Leistungen genau da gefordert und gefördert werden, wo es notwendig ist, nämlich in ihren Stärken und Schwächen. So sind Waldorfschulen insgesamt sicherlich keine schlechte Alternative zum herkömmlichen Schulsystem. Denn dass das autoritäre System massiv schwächelt, das ist spätestens seit den PISA-Studien kein Geheimnis mehr.
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