Digitale Tafeln und schlaue Stifte, dazu Smartphones in jedem Schulranzen – das voll digitalisierte Klassenzimmer wird in Europa noch skeptisch betrachtet, ist aber an vielen Schulen Nordamerikas schon Realität.
Für die 11.Klasse einer Oberstufenschule im kanadischen Toronto geht es zum Biologie-Unterricht in den Regenwald von Borneo. In Lebensgröße und aus nächster Nähe beobachten die Jugendlichen solch exotische Tierarten wie Nasenaffen oder Nebelparder. Ihre Beobachtungen notieren sie sofort auf den mitgebrachten Tablet-Computern. Doch die Schüler mussten nicht einmal Kanada für diesen Ausflug verlassen. Sie sind vielmehr Teilnehmer an einem Pilotprojekt des Erziehungswissenschaftlichen Instituts der Universität von Toronto (OISE), das es sich zur Aufgabe gemacht hat, „smart classrooms“, zu Deutsch schlaue Klassenzimmer, zu entwickeln.
An drei Wände des Klassenzimmers werden die Dschungel-Szenen aus Borneo projiziert. Am Kopfende des Raums erscheinen die auf den Tablets notierten Beobachtungen der Schüler auf zwei interaktiven Whiteboards. Dort können Daten und Notizen mit Handgesten an der Wand bewegt werden – ein idealer Ansatzpunkt für den Lehrer, um mit seiner virtuellen Expedition die Ereignisse des Tages zu diskutieren. „Wir versuchen, die Jugendlichen aber auch die Lehrer dazu zu bewegen, Lernen als etwas anzusehen, das in der Gruppe stattfindet“, erklärt Projektleiter Jim Slotta.
Jeder Ort kann zum Klassenzimmer werden
So soll die Zukunft an den digitalisierten Schulen aussehen: jeder Ort kann zum Klassenzimmer werden; das Klassenzimmer kann zu jedem Ort kommen. Auch wenn es noch etliche Jahre dauern dürfte, ehe der vom OISE entwickelte Raum zur alltäglichen Realität an kanadischen Schulen wird, so sind die Forscher dennoch sicher, dass dies nur eine Frage der Zeit ist. Technologie entwickelt sich mit rasender Geschwindigkeit und findet dank ständig fallender Preise immer schneller Zugang in die Haushalte der Normalbürger. „Wir hämmern hier nur den Weg für diese Entwicklung frei, da wir wissen, dass diese Geräte ständig erschwinglicher werden“, sagt OISE-Mitarbeiter Mike Tissenbaum.
Am besten ist diese Entwicklung in Nordamerika bei den Smartphones zu beobachten. Laut einer Umfrage der NRO „Project Tomorrow“ besaßen gegen Ende 2010 die Hälfte aller Schüler in den Mittel-und Oberstufen amerikanischer Schulen ein Smartphone, was einen 47-prozentigen Anstieg gegenüber 2009 darstellt. Für die anstehende Auswertung der Daten von 2011 wird ein weiterer drastischer Anstieg erwartet.
Solche Zahlen konnten auch die Schulverwaltungen in den USA und Kanada nicht mehr ignorieren. Während man dort jahrelang die elektronischen Wegbegleiter der Jugendlichen bekämpfte und aus den Klassenzimmern verbannte, findet nun ein klares Umdenken statt. So revidierte zum Beispiel die Verwaltungsinstanz der öffentlichen Schulen in Toronto im September einen Bann für persönliche elektronische Geräte in Klassenzimmern und lässt diese jetzt zu.
Auch in den USA werden Schüler nun ausdrücklich eingeladen, ihre Handys, Smartphones, E-Reader und andere Geräte in den Ranzen zu stecken. Mit dem Programm „Bring Dein eigenes Gerät“ entledigen sich finanziell klamme Schulverwaltungen zudem des Problems, nicht genügend Mittel für teure Geräte zu haben. „Warum anschaffen, was die Schüler ohnehin schon besitzen?“, lautet die Devise.
Das „Konsortium für Schul-Netzwerke“ (CoSN) beobachtete in fünf amerikanischen Bundesstaaten den Erfolg solcher Mobilelektronik-Initiativen und kam zu durchweg positiven Ergebnissen. Zuschüsse zur Anschaffung zusätzlicher Gerate konnten zum Beispiel dank der hohen Eigenbeteiligung auf finanziell schwächere Schüler beschränkt werden.
Bei der Frage, welche Art von Geräten in den Unterricht einzubeziehen, entfernt sich der Trend laut CoSN dabei eindeutig von weniger handlichen Laptops und Netbooks und bevorzugt stattdessen Tablets und besonders Smartphones.
Emotionale Überzeugung und Zeitmanagement
Auch an den „St. Mary’s City Schools“ im U.S.-Staat Ohio geht ohne Smartphones gar nichts mehr. Dort hat die Schulverwaltung dafür gesorgt, dass jeder Schüler in den Klassen 3 bis 5 ein solches Mobilgerät besitzt, denn der Lehrplan ist unter dem Begriff „Mobiles Lernen“ hier vollständig auf diese Technologie eingestellt. An der CoSN-Teilnehmerschule rennen schon einmal Viertklässler während des Mathematik-Unterrichts durch das Gebäude, um mit ihren Mobilgeräten Fotos von geometrischen Formen zu machen, über die sie gerade im Unterricht gelernt haben. Hier sind die Lehrer von den drei wichtigsten Vorteilen der Methode überzeugt: Gewicht, emotionale Überzeugung und Zeitmanagement.
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Smartphones wiegen nicht nur wesentlich weniger als Schulbücher, sie haben auch dem etwas sperrigen Laptop in Sachen Handlichkeit einiges voraus. Allein schon dieser simple Gewichtsunterschied führt nach Einschätzung des CoSN dazu, dass die Geräte nur selten zu Hause liegen bleiben. Hinzu kommt ein psychologischer Effekt, den Patricia Wallace, Direktorin am „Amerikanischen Zentrum für talentierte Jugendliche“ (CTY), als eine „starke emotionale Anbindung an die Geräte“ bezeichnet. Die Schüler sehen Smartphones als „coole Gimmicks“, die sie aus ihrem Privatleben kennen und nicht als ein angestaubtes Lehrmittel, das ihnen von der Schule aufgezwungen wurde. Laut Wallace öffne die enorme räumliche und zeitliche Flexibilität der Geräte dabei bislang unbekannte Lernmöglichkeiten, etwas das die Pädagogin als „Mikro-Zeitnischen“ bezeichnet. So könne ein Teil der Hausaufgaben beispielsweise beim Warten an der Bushaltestelle oder in der U-Bahn erledigt werden.
Bessere Leser dank iPod
Soviel Enthusiasmus geht einigen jedoch noch zu weit. Besonders auch im deutschsprachigen Europa wird auf Probleme und Gefahren wie zum Beispiel Cyber-Mobbing, die Ausgrenzung armer Familien oder den Verlust von Schreibkultur verwiesen.
Doch auch hier zeichnen die CoSN-Studien ein anderes Bild. So verglich die Schulverwaltung von Canby im U.S.-Staat Oregon die Leistungen von Schülern, die Zugang zu einem iPad oder iPod Touch hatten mit Klassenkameraden, die ohne ein solches Gerät auskommen mussten. Die mit den Apple-Geräten ausgerüsteten Schüler erzielten in Lese- und Mathematik-Tests beinahe ausschließlich bessere Ergebnisse. 85 Prozent der Viertklässler gaben dabei an, dass die Aufnahme und Wiedergabe ihrer Leseübungen auf den iPods sie zu besseren Lesern gemacht hätten.
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