Wir sind ja phantasievolle Namensschöpfungen rund um unseren wiederkäuenden Milch-Hauptlieferanten gewöhnt. Wir spielen Blinde Kuh, lachen über Tetzlaffs Dusselige Kuh und erreichen durch gezielte Werbekampagnen, dass unsere Kinder die Lila Kuh für eine natürliche Rinderrasse halten. Doch was, bitteschön, ist eine Eiserne Kuh?
Im Internetzeitalter hat Wikipedia längst den großen Brockhaus verdrängt und erklärt uns, dass als Eiserne Kühe Jahrhunderte lang das Vieh bezeichnet wurde, das rechtlich an ein Grundstück gebunden war. Zur Kontrolle bemühen wir noch die Internetsuchmaschine unseres Vertrauens und erfahren über den erstgenannten Link, dass eine Eiserne Kuh wohl eine SB-Zapfanlage zur Direktvermarktung von Milch ist.
Nein, vergessen Sie beides, die wahre Eiserne Kuh hat mit dem Tierreich nichts zu tun. Die Bezeichnung leitet sich zwar von der Funktion her, die Kühe für den Menschen erfüllen, das Ergebnis ist aber wesentlich spektakulärer!
Die Natur ist voller Eiweiß
Die Kuh liefert uns Nahrung, in erster Linie hochwertiges Eiweiß. Auf genügend Eiweißzufuhr sind wir angewiesen, sie ist lebenswichtig für uns. Dabei haben wir die Wahl zwischen tierischem und pflanzlichem Eiweiß. Beides kann unser Körper verwerten und ob wir eher auf ein Steak und Käse oder auf Soja und Gemüse setzen, ist eher eine Kopfentscheidung.
Aber wenn wir ganz auf tierisches Eiweiß verzichten wollten oder müssten, könnten wir unseren Bedarf dann gänzlich über Pflanzen decken? Der Pflanzenreichtum auf der Erde ist zwar groß, aber viele Blätter und Gewächse sind für uns Menschen unverbaubar und oft beträgt der Eiweißanteil gerade einmal fünf Prozent der Gesamtsubstanz. Gibt es eine einfache Möglichkeit, an dieses Eiweiß auch ohne den Umweg durch den Kuhmagen heranzukommen?
Buch: Food protein sources von Norman Wingate Pirie
The Lancet – Leaf Protein as Human Food
Der Spiegel (1960) – Die Eiserne Kuh
Blätter essen – Selbstversorgung durch Blätter und Unkraut als Nahrung
Die Eiserne Kuh entlockt den Blättern ihren Schatz
Der britische Biochemiker N.W. Pirie kam genau über diese Fragen im zweiten Weltkrieg ins Grübeln. Was wäre, wenn in Großbritannien durch eine länger anhaltende Seeblockade die Nahrung knapp würde?
Seine Lösung: Die Eiserne Kuh! In einer großen Eisenpresse wurden Gemüseblätter, Erbsenranken, Kartoffelkraut, Wasserpflanzen und anderes Blattwerk gemahlen und zerquetscht. Der Presssaft wurde auf 80° Celsius erhitzt. Bei dieser Temperatur gerinnt das enthaltene Eiweiß und kann herausgefiltert werden. Der Brei, den Pirie so erzeugte, hatte einen Eiweißgehalt von rund 40%, durchaus vergleichbar also mit Kuhmilch oder Hühnereiern.
Keine Chance für Pirie und seine Eiserne Kuh?
Dass die Fachwelt Piries Erzeugnis nicht sofort mit offenen Armen aufnahm und der Spiegel 1960 darüber in einem Artikel mit spöttischem Unterton berichtete, liegt in erster Linie an dem ungewohnten und für menschliches Empfinden unangenehmen und bitteren Geschmack der grünen Paste.
Auch die Tatsache, dass sich das Chlorophyll zum Teil der Zersetzung im Darm entzog und deshalb für ein ungewohntes Farbenspiel beim Toilettengang sorgte, ließ ablehnende Stimmen laut werden. Wenn sich also Piries Eiserne Kuh bisher nicht durchgesetzt hat, so liegt das wohl kaum am sinnvollen Grundkonzept, sondern daran, dass wir glücklicherweise noch nicht gezwungen sind, bei der Auswahl unserer Nahrung etwas weniger wählerisch zu sein.
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Lesenswerter Artikel. Informativ und gleichzeitig kurzweilig.