Eine Diät anzufangen ist ein Kinderspiel. Schwierig wird es erst dann, wenn es ums tapfere und standhafte Durchhalten geht. Dieser dicke Stolperstein ist der Tatsache geschuldet, dass nagender Hunger zu den unerbittlichsten und am stärksten fordernden Gefühlen zählt, die der Mensch kennt. Wer so richtig „Kohldampf schiebt“, für den steht alles andere hinter dem Gedanken an eine nahrhafte und sättigende Speise meilenweit zurück. Echter Hunger kann im tragischen Extremfall sogar so übermächtig werden, dass man bereit ist, für ein paar ordentliche Bissen zu töten. Selbst der schreckliche Gedanke an Kannibalismus kann (und wird) in solchen Ausnahmesituationen das Haupt erheben. Deshalb ist es auch in deutlich entspannteren Mangelsituationen unmittelbar verständlich, dass ein wahrhaftig an Hunger leidender Mensch in seinem magenknurrenden Diät-Elend von jetzt auf gleich alle guten Vorsätze über Bord wirft, und sich mit einem heiseren Aufschrei auf den Kühlschrank stürzt.
Der Hunger sitzt eben als archaische Regung an einem längeren Hebel als der Wunsch nach einer schlanken Silhouette. Doch wie stellt sich das erbarmungslose Diktat des Hungers in der wissenschaftlich neurophysiologischen Draufsicht dar? Warum hat der Hunger den Menschen so unerbittlich im Griff? Und wie könnte man den Würgegriff des Hungers mit den Waffen der Wissenschaft so weit lockern, dass sich Diäten deutlich erträglicher gestalten würden?
Hunger frisst Hirn
In den Vereinigten Staaten ist das Problem der fortschreitenden Fettleibigkeit recht augenfällig. Darum findet man hier besonders oft ebenso engagierte wie praxisorientierte Forscherteams, die auf der Suche nach dem heiligen Gral der Gewichtsreduktion sind. Unter diesen Rittern in schlank schimmernder Rüstung findet sich auch die Wissenschaftlergruppe um Susmita Kaushik vom Einstein College of Medicine in New York. Am Mausmodell sollte hier erforscht werden, was auf der Ebene der Gehirnzellen tatsächlich passiert, wenn der kleine Hunger sich zu einem großen Gefühl auswächst. Was die Wissenschaftler dabei auf den Objektträgern unter ihren Mikroskopen zu sehen bekamen, war ebenso verblüffend wie erschreckend.
Denn es konnte ein Cluster von Neuronen im Gebiet des Hypothalamus aufgespürt werden (AgRP-Neuronen), welches auf Nährstoffmangel hochgradig empfindlich und bestürzend konsequent reagiert. Diese Nervenzellen fangen nämlich damit an, sich selbst aufzuessen und zu verdauen, wenn der Organismus nicht genug Nahrung aufnimmt. Bei diesen Akten kannibalistischen Selbstmordes werden aus den aufgelösten Zellen bestimmte Zellinhalte freigesetzt, die dann ihrerseits als Signal für die sofortige Produktion der so genannten „Agouti-related peptide“ dienen. Und diese winzig kleinen Eiweiße sind die mächtigsten und überdauerndsten Appetitanreger, die die Biologie überhaupt kennt. Wenn sich diese kleinen Teufel in die Blutbahn ergießen, dann kapituliert auch die standhafteste Seele vor einem als übermächtig und nahezu vernichtend erlebten Hungergefühl. Das Hirn futtert sich also quasi selbst auf, um eine Nahrungsaufnahme zu erzwingen. Schwerere Geschütze können Nervenzellen nicht mehr auffahren. Weder bei Mäusen noch bei Menschen.
Wie könnte diese Erkenntnis zur Gewichtsabnahme beitragen?
Es wäre sicher ein großer Fortschritt, wenn man die AgRP-Neuronen neurochemisch daran hindern könnte, sich selbst zu verdauen. Denn ohne deren frei flottierende Zellinhalte würde auch der bohrende Hunger ausbleiben, und ein Diäterfolg könnte in greifbare Nähe rücken. Diesen Knackpunkt wollen die Wissenschaftler jetzt weiter verfolgen. Hoffentlich mit baldigen Erfolgsresultaten.
Weiterführender Link zum Thema:
Susmita Kaushik, Jose Antonio Rodriguez-Navarro, Esperanza Arias, Roberta Kiffin, Srabani Sahu, Gary J. Schwartz, Ana Maria Cuervo, Rajat Singh: Autophagy in Hypothalamic AgRP Neurons Regulates Food Intake and Energy Balance. Cell Metabolism, Volume 14, Issue 2, 173-183, 3 August 2011 (10.1016/j.cmet.2011.06.008)
http://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(11)00257-9
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