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Übergewicht – Märchen, Überzeugungen und Fakten

Was hilft gegen Übergewicht? US-amerikanische Wissenschaftler trennen Spreu von Weizen im Dickicht der Empfehlungen, Halbwahrheiten und Unwissen.

Übergewichtige Frau im Bikini

Übergewicht kann durch genetische Veranlagung entstehen, eine Tatsache die als erwiesen gilt. Bild: © fotolia.de

In den Industriestaaten werden die Menschen immer dicker. Das Körpergewicht ist deshalb in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Fokus des Bewusstseins geraten – in den persönlichen und auch gesellschaftlichen. Ganze Industrien leben von dieser Entwicklung – von den Modelshows im Fernsehen über die Produzenten von Schlankheitsmittelchen bis hin zu Beratern, Coaches und Therapeuten.

Erstaunlicherweise gibt es aber kaum handfestes Wissen zu diesem Thema. Das nahmen Wissenschaftler aus mehreren Ländern unter der Führung von Krista Casazza von der University of Alabama in Birmingham zum Anlass, das zugängliche Wissen über Übergewicht zu sammeln und auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Die Ergebnisse dieser Fleißarbeit veröffentlichte das Forscherteam im Januar 2013 im The New England Journal of Medicine.

Im Internet auf der Suche nach dem Übergewicht

Die Wissenschaftler suchten im Internet in allen möglichen Quellen nach Empfehlungen bei Übergewicht und Adipositas. Ihre Suche schloss frei zugängliche Massenmedien genau so ein wie Fachliteratur. Dabei stießen sie auf unzählige, sich teilweise widersprechende, Theorien zur Entstehung von Übergewicht und den Umgang damit. Und genau hier fängt das Problem an – wer schlecht oder falsch informiert ist, fällt die falschen Entscheidungen. Das betrifft jeden persönlich, aber auch die Politik und das Gesundheitswesen.

Märchen zum Übergewicht

Das Märchen von den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen wird nicht wahrer, je häufiger man es erzählt. Genau so geht es sieben Erkenntnissen zum Übergewicht, die den Forschern in die Hände fielen, aber längst widerlegt sind: Sex verbrennt nicht so viel Energie, wie landläufig immer behauptet wird – tatsächlich ist es kaum mehr als beim Fernsehen; Kinder, die gestillt werden, sind nicht vor Übergewicht geschützt; Der Schulsportunterricht allein verhindert keine Fettleibigkeit; Wer in kurzer Zeit viel Gewicht verliert, ist in der Gesamtbilanz nicht schlechter oder besser dran als andere; Kleine Veränderungen von Energieaufnahme oder -abgabe bringen keine großen Veränderungen; Bei der Gewichtsreduzierung sind realistische Ziele nicht unbedingt nötig; Auch wenn man die Bereitschaft mitbringt, sein Gewicht zu reduzieren, heißt das nicht, dass es auch funktioniert und anders herum.

Überzeugungen zum Übergewicht

Die Wissenschaftler fanden darüber hinaus sechs Überzeugungen zum Thema Übergewicht, die zwar durch nichts gestützt, aber trotzdem gerne geglaubt werden: Wer frühstückt, wird nicht dick; Die Essenserfahrungen der Kindheit prägen; Obst und Gemüse zu essen verhindert Übergewicht; Große Gewichtsschwankungen sind ungesund; Zwischenmahlzeiten machen dick; Das Wohnumfeld bestimmt darüber, ob man sich bewegt oder eher nicht.

Auch wenn diese Überzeugungen mittlerweile ins Allgemeingut übergegangen sind – Beweise dafür oder dagegen gibt es bislang nicht. Niemand weiß, ob die oben genannten Faktoren tatsächlich Auswirkungen auf das Körpergewicht haben.

Fakten zum Übergewicht

Die Forscher fanden aber auch wissenschaftlich bewiesene Fakten. Demnach haben neun Faktoren einen Zusammenhang mit Übergewicht: Genetische Veranlagung für Übergewicht spielt eine Rolle, ist aber kein unabänderliches Schicksal, wenn die Lebensführung darauf abgestimmt wird; Wer Kalorien reduziert, nimmt auch ab, der Erfolg lässt sich langfristig aber nur durch weitere Maßnahmen stabilisieren; Körperliche Aktivität ist der Gesundheit immer hilfreich, selbst, wenn es keine erwünschte Gewichtsreduktion zur Folge hat; Wer sich ausreichend und vor allem regelmäßig sportlich betätigt, kann sein Gewicht konstant halten; Wer für den Rest seines Lebens den Lebensstil beibehält, der die Gewichtsabnahme verursacht hat, der wird sein Gewicht auch halten; Kinder haben mehr Erfolg beim Abnehmen und Halten ihres Körpergewichtes, wenn die Eltern und das häusliche Umfeld an einem Strang ziehen; Der Verlust von Kilos ist größer beim Einsatz von strukturierten Mahlzeiten und Nahrungsersatzprodukten als mit auf das Befinden abgestimmten Varianten wie Maßhalten oder Vielfalt der Nahrung; Medikamente zum Abnehmen können eine Hilfe sein – so lange, bis die Lebensstilveränderungen konstant durchgehalten werden; Es gibt Menschen, die mit Adipositaschirurgie langfristig abnehmen können und damit ihr Risiko für Folgeerkrankungen senken.

Nach Überzeugung der Wissenschaftler um Krista Casazza führt das Halbwissen in Ernährungsfragen zu falschen politischen Entscheidungen, unnötigen Belastungen der Gesundheitssysteme beziehungsweise der Betroffenen und zur ungünstigen Verteilung von Forschungsmitteln. Wer langfristig etwas gegen Übergewicht unternehmen möchte, sollte sich eher mit den Fakten beschäftigen, als sich im Märchenwald zu verlieren.

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Über Manuela Käselau

Manuela Käselau ist Physiotherapeutin und Shiatsu-Praktikerin (GSD). Parallel studierte sie Phonetik, Niederdeutsche Linguistik und Systematische Musikwissenschaft an der Universität in Hamburg. Als freie Autorin schreibt sie für diverse Online- und Printmedien, hauptsächlich im medizinischen Bereich. Seit 2012 ist sie ein Mitglied der Redaktion.