Das Problem kennen alle Menschen, die über keine medizinische Ausbildung verfügen – Gespräche beim Arzt verlaufen meist seltsam, denn zwischen Begrüßung und Verabschiedung befindet sich urplötzlich ein unsichtbarer Filter im Raum. Er verwandelt alle vom Kittelträger gesagten Worte in unverständliche Buchstabenketten. Ergebnis: Der Arzt weiß meist genau, was man hat, man selbst aber nicht. Auch wenn man einen schriftlichen Befund in den Händen hält, wird es nicht besser. Die meisten Worte erschließen sich dem Normalpatienten einfach nicht, der Zusammenhang zwischen ihnen schon gar nicht. Seit Januar 2011 gibt es für solche Fälle aber kompetente Hilfe im Internet. Unter der Adresse washabich.de übersetzen und erklären Medizinstudenten Arztbefunde. Der Zulauf ist riesig, der Nutzen groß.
Medizinstudentin entdeckt eine Lücke
Angefangen hat es mit einem Freundschaftsdienst. Anja Kersten, damals Studentin der Humanmedizin, wurde von einer Freundin um Rat gefragt – ihre Mutter war nach einer Krebserkrankung untersucht worden und hatte darüber einen Arztbrief bekommen. Der Inhalt blieb ihr aber ein Rätsel und die Angst war groß, zumal „Metastasen“ erwähnt wurden. Die Medizinstudentin setzte sich mit dem Brief auseinander, übersetzte und erklärte ihn. Ihr fiel auf, dass es vielen Menschen so geht, denn nicht jeder hat in Freundeskreis oder Familie jemanden, den man fragen könnte. Was liegt da näher, als diesen Freundschaftsdienst auszuweiten und für alle Interessierten anzubieten? Sie suchte und fand Mitstreiter – den Medizinstudenten Johannes Bittner und Ansgar Jonietz als den Mann für die Informatik. Die drei brüteten die Idee bis zum Ende aus und stellten vier Tage später das Ergebnis online. Im Herbst 2012 arbeiten bereits 335 Medizinstudenten, 163 Assistenz- und Fachärzte und zwei Psychologen ehrenamtlich bei washabich.de. Sie übersetzen 150 medizinische Dokumente pro Woche, seit dem Start sind 8340 Befunde abgearbeitet worden. Langfristig ist geplant, die Kapazitäten des Projektes auszubauen. Damit möglichst viele Menschen auch ohne Wartezeit ihre Befunde einschicken können.
Warum versteht man Ärzte nicht?
Wäre es nicht einfacher, wenn Ärzte so reden würden, dass jeder sie versteht? Eine Überlegung, die Schwächen hat. Ärzte bedienen sich einer Fachsprache, wie andere Berufsgruppen auch. Diese kann natürlich auch dazu dienen, nicht Eingeweihten den Zugang zu verwehren, der Hauptgrund ist aber ein anderer – die Eineindeutigkeit. Mit Fachsprache kann man auch komplizierte Sachverhalte kurz und präzise darstellen, Missverständnisse und Fehlinterpretationen sind somit ausgeschlossen – im medizinischen Bereich kann das lebenswichtig sein. Diagnose, Dokumentation und Austausch mit Kollegen findet also sinnvollerweise in Fachsprache statt.
Und warum übersetzen die Ärzte das dann nicht für die Patienten? Das kann mehrere Gründe haben: Ob ein Arzt in der Lage ist, sich dem Patienten verständlich zu machen, hängt natürlich auch von dessen sprachlichen Fähigkeiten und seinem Einfühlungsvermögen ab. Und da unterscheiden sich Ärzte nicht von anderen Menschen – einer kann es, der andere nicht. Zudem weiß der Arzt oft nicht, wie weit ein Patient versteht oder eben nicht. Gepaart mit der Furcht vieler Menschen, den Arzt lieber nichts zu fragen oder dem Vergessen von Fragen wegen der Aufregung, die einige in einer Praxis befällt, ergibt das meist einen uninformierten Patienten. Aufseiten des Arztes spielt außerdem die Zeit eine große Rolle – im normalen Praxis- oder Klinikalltag sind ausführliche Gespräche nicht vorgesehen, weil sie nicht angemessen vergütet werden. Und auch wenn Ärzte einen sozialen Beruf haben, von wirtschaftlichem Denken bleiben sie nicht verschont.
Wie funktioniert die Übersetzung?
Wer auf die Homepage des Projektes geht, kommt mit ein bisschen Glück gleich dran. Mit Pech ist die Tageskapazität schon ausgelastet und man wird gebeten, es morgen wieder zu versuchen. Meist aber landet man im virtuellen Wartezimmer. Hier kann man seine E-Mail-Adresse eintippen, an diese geht eine Nachricht raus, wenn die Anmeldung erfolgreich war. Nun heißt es warten, bis wieder eine Mail kommt – das kann im Herbst 2012 bis zu zwei Wochen dauern, erfolgt im Praxistest aber schon nach drei Tagen. Wenn es so weit ist, gibt man seinen Befund anonymisiert ein, maximal zwei Seiten lang, Auszüge aus Befunden sind auch erlaubt. Die Patientendaten werden nicht übermittelt, nur Alter und Geschlecht werden mitgeschickt. Der Text kann eingetippt werden, per Fax geschickt oder hochgeladen werden, als jpg, pdf, png oder Word-Dokument. Jetzt heißt es wieder warten, bis spätestens nach einigen Tagen eine neue E-Mail kommt. Diese enthält einen Link, unter dem man seine Übersetzung, geschützt durch ein Passwort, abrufen kann.
Ende 2011 nahm die Stiftung Warentest die Plattform unter die Lupe und befand: »Die Übersetzungen der fünf Testbefunde waren insgesamt von empfehlenswerter Qualität. Zwar kamen auch Ungenauigkeiten, uneindeutige Formulierungen und kleinere Übersetzungsfehler vor, sie waren aber nicht so gravierend, dass sich daraus für Patienten ein Problem ergeben könnte. Insgesamt waren die Texte auch für Laien gut verständlich.«
Das Angebot finanziert sich über Sponsoren und wird von medizinischen Partnern unterstützt. Für den Kunden fallen keine Kosten an, da die Übersetzer ehrenamtlich arbeiten. Wer will, kann aber Geld spenden, was immerhin 40 Prozent der Nutzer tun. Der größte Teil davon geht an die Person, die den Befund übersetzt hat, der Rest landet in der Infrastruktur des Projekts.
Was kann die Plattform nicht?
Die eingeschickten Befunde werden nur übersetzt und erklärt. Therapieempfehlungen, Bewertungen von Diagnosen oder ärztlichen Maßnahmen gibt es hier nicht. Schon auf der Startseite erfahren die Besucher, dass ihre Befunde auch nicht in Zusammenhänge zu anderen Krankheiten gesetzt werden, da man dazu den Patienten vor sich sehen und seine Krankengeschichte im Verlauf kennen müsste. Ein Besuch in der Arztpraxis ersetzt die Plattform demzufolge nicht. Die Studenten wollen sich hier auch nicht gegen ihre Kollegen aufspielen, ihnen geht es eher um den Wissenszuwachs. Sie sind alle im höheren Semester, lernen auf diese Weise für ihr Studium und bereiten sich auf die spätere Praxis vor. Unterstützt werden sie von approbierten Medizinern oder Psychologen.
In Internetforen sind deshalb auch kritische Stimmen zu lesen, die sich fragen, was das Ganze soll. Es wäre ja schließlich mittlerweile jeder selbst in der Lage, seinen Arzt um verständliche Informationen zu bitten. Dies stellt sich in der Praxis aber als Irrtum heraus. Menschen jeder Altersklasse sind damit überfordert, den medizinischen Erklärungen so zu folgen, dass sie anschließend wirklich informiert sind. Für genau diese ist washabich.de eine gute Hilfe.
Und was sagen Ärzte zu washabich.de?
Anja Kersten und ihre Mitstreiter befürchteten anfangs, dass sie mit ihrer Idee den gestandenen Kollegen auf die Füße treten würden. Aber das Gegenteil ist der Fall. So unterstützten Anfang September 2012 163 Assistenz- und Fachärzte durch direkte Mitarbeit die Studenten. Ebenso die Landesärztekammer Sachsen und der Ärzteverband Marburger Bund. Offenbar sind auch stellenbietende Häuser von washabich.de und den Medizinstudenten überzeugt, denn auf der internen Seite gibt es mittlerweile auch einen Stellenmarkt für die ehrenamtlichen Fast-Absolventen. Wer sich neben dem Studium derart sinnvoll ehrenamtlich betätigt, ist eben auch für Arbeitgeber interessant.
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