Aus Sicht eines Europäers gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika einige Dinge, die auf den ersten Blick reichlich sonderbar erscheinen. Die allgegenwärtigen Warnhinweise zum Beispiel. Sie klären darüber auf, was man alles nicht machen soll – Kleidung nicht am Körper bügeln, Fisch nicht essen, ohne ihn vorher auf Gräten geprüft zu haben, feuchtes Handy nicht in der Mikrowelle trocknen. Solche Lebenstipps werden aber verständlich, wenn man das Rechtssystem der USA kennt und den Sinn von „to sue“ – „verklagen“. Das geht in den USA schnell und ist auch oft von (monetärem) Erfolg gekrönt.
Der Durchschnittsdeutsche findet auch „Mall Walking“ eher merkwürdig. „Malles Gehen“ könnte man meinen, wäre die korrekte Übersetzung, denn bei dieser Art der körperlichen Betätigung treffen sich Menschen in einem Einkaufszentrum mit einem Zweck – schnell zu gehen. „Mall“ meint in diesem Falle aber das Einkaufsparadies und nicht das Adjektiv, was so viel wie „nicht ganz bei Verstand, wunderlich“ bedeutet.
Autonation USA – zu Fuß gehen nur wenige
Mall Walking ist vor allem eins: praktisch. Die USA sind, was die öffentliche Infrastruktur betrifft, völlig anders aufgebaut als Deutschland. Alles ist auf das Auto abgestimmt; wer eins hat, kann am Leben teilnehmen. Beliebt ist zum Beispiel die Möglichkeit, „drive thru“ einzukaufen. Man fährt mit dem Auto an ein Fenster, bestellt dort seine Ware, bekommt diese ausgehändigt, bezahlt und fährt damit nach Hause. Diese Möglichkeit bieten Geschäfte aller Richtungen – Banken, Schnellrestaurants, Lebensmittelläden und so weiter.
In einem Land, das so organisiert ist, gibt es im Normalfall tatsächlich kaum Möglichkeiten, gefahrlos zu Fuß unterwegs zu sein. Und das gilt entsprechend auch für sportliches Gehen oder gar Laufen. Stadtbewohner können das eigentlich nur in Grünanlagen, wenn eine in der Nähe ist. Außerhalb der Städte ist unbebautes Land wortwörtlich unbebaut, also ohne Infrastruktur, dort kann man in der Regel auch nicht gehen. An einem Ort funktioniert das aber immer und jeder US-Amerikaner hat diesen in seiner Nähe: Malls – Einkaufszentren.
Mall Walking – Wenn das Einkaufszentrum zur Sportarena wird
Malls gibt es in vielen Varianten, meist sind sie eher gigantisch denn klein. Sie sind die ideale Sportarena: mit dem Auto erreichbar, immer genug Parkplätze vor der Tür und klimatisiert. Es gibt einen Sicherheitsdienst und das Gehen dort ist so schön einfach – der Boden ist glatt, bietet keine Stolperfallen, die Strecke ist immer identisch. Auch Toiletten sind in der Nähe, man kann während des Sportelns nach Schnäppchen Ausschau halten und anschließend sogar die verbrauchten Kalorien vielfach wieder auffüllen. Auch wenn sich das für Europäer nicht richtig nach Sport anhört, ist es das. Für eine Nation, deren Bewohner sich in der Masse nur dann bewegen, wenn es unbedingt notwendig ist, ist es schon ein großer Erfolg, wenn Menschen überhaupt zu Fuß gehen.
Es profitieren aber nicht nur die Menschen, die dem Mall Walking frönen, die Malls selbst haben auch was davon. Und unterstützen entsprechend diese Aktivitäten. Die 1992 eröffnete Mall of America (MOA) in Bloomington bei Minneapolis ist so etwas wie der Veteran unter den Walking Malls. Jährlich kommen über 40 Millionen Kunden zum Einkaufen – und bevor es mit dem Konsumieren losgeht, kommen morgens Hunderte zum walken. Sie haben sogar ihren eigenen Sportverein, die MOA Mall Stars. Die Mitglieder treffen sich nach Lust und Laune in der beständig auf 21 Grad Celsius temperierten Mall – hier hätten 32 Boeing 747 Platz, genug Raum also auch zum Gehen. Die Walkingstrecken sind gekennzeichnet und ausgemessen, so können die Geher sich nicht verlaufen und über ihre zurückgelegte Strecke Buch führen. In der MOA gibt es über 500 Läden. Würde man in jedem Geschäft nur zehn Minuten verbringen, bräuchte man 86 Stunden, um die Mall zu schaffen. Mit Walken geht es natürlich schneller.
MOA Mall Stars – im Verein zu Fuß gehen
Das Walken in den Einkaufszentren ist in der Regel kostenlos und an allen Öffnungstagen der Mall möglich. Hier darf jeder gehen; wer es aber ernster meint, kann Mitglied in einem Verein werden. Alle größeren Malls in den USA bieten diese Möglichkeit. In der MOA reichen schon 15 Dollar, um als Einzelmitglied von den Vorteilen des Gemeinschaftswalkings zu profitieren. Zum Beispiel Mitgliedskarten, mit denen man sich an- und abmeldet – ein angeschlossener Rechner wertet die Daten aus und schickt sie monatlich. So weiß der Sportler, wie viel Zeit er walkend unterwegs war und wie viele Kalorien er dabei verbraucht hat. Aber auch ganz irdische Vorteile winken: Die meisten Geschäfte und Restaurants in den Malls bieten Rabatte für Kartenmitglieder, zudem gibt es kostenlose Vorträge über Gesundheit, Sport und Ernährung. Auch beliebt sind von den Mall eigenen Geschäften gespendete Preise für das Absolvieren bestimmter Strecken – Kaffeebecher, T-Shirts, Bücher, Wasserflaschen und ähnliches. Kostenlose Getränke sind oft ebenfalls im Angebot und meist werden auch diejenigen mit den meisten Meilen wöchentlich/monatlich/jährlich öffentlich gewürdigt. So kommt natürlich schnell ein Gefühl für die Gemeinschaft auf, auch das ist etwas, was US-Amerikaner schätzen.
Mall Walking auch in Deutschland?
In Deutschland wurde immer schon viel zu Fuß gegangen. Ging man früher noch ohne Ziel spazieren und flanierte aus Lustgründen, wird das Gehen heute immer mehr auch in Themen eingebunden – geführte Stadtspaziergänge – oder einem sportlichen Zweck unterworfen – Walken, Nordic Walken, Joggen. Hierzulande wird diesen Tätigkeiten eher draußen gefrönt, wobei der anhaltende Trend zum Sport im Fitnesszentrum dafür sorgt, dass auch immer mehr drinnen gegangen wird, auf Laufbändern. Aber auch draußen ist es mit der Unorganisiertheit und dem ziellosen Flanieren längst vorbei. In vielen Gegenden Deutschlands gibt es mittlerweile Landkarten mit eingezeichneten Lauf- oder Walkingstrecken. Meist sind diese auch ausgeschildert, so wie man es schon länger von Wanderwegen kennt.
In Anbetracht der demografischen Entwicklung ist denkbar, dass in Deutschland auch das Mall Walking irgendwann nicht mehr so wunderlich anmutet, weil immer mehr ältere Menschen die Vorzüge des Gehens in einem Einkaufszentrum zu schätzen wissen. Und es dann vielleicht auch tun. Und mal ehrlich – wir würden uns auch daran gewöhnen. An die allgegenwärtigen Warnhinweise auf jedem neu gekauften Toaster, Drucker oder Campingstuhl haben wir uns doch auch schnell gewöhnt.
© Pixel Trader Ltd. 2013 Alle Rechte vorbehalten