Zumindest wird das regelmäßig berichtet. Aber ist das eigentlich auch wahr? Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe klärt über Missverständnisse und Irrtümer auf.
Es klingt immer so einleuchtend: Die vielfach zitierte „heutige Zeit“, die wahlweise als „schnelllebig“, „komplex“ oder „unmenschlich“ tituliert wird, ist meistens Schuld. Nun kann sich die „heutige Zeit“ schlecht wehren, daher wird ihr alles mögliche in die Schuhe geschoben. Zum Beispiel, dass sie Depressionen auslöst, ihre Arbeitsbedingungen auf jeden Fall eine Mitschuld tragen und dass man sich von ihr einfach nur gründlich ausruhen muss, dann wird man auch nicht depressiv. Auch wenn diese vermeintlichen Wahrheiten permanent wiederholt werden – richtiger werden sie deshalb nicht. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe aus Leipzig räumt mit Missverständnissen und Irrtümern über die Depression auf und kommt zu gänzlich anderen Ansichten zum Verhältnis „heutige Zeit“ und Depression.
Die „heutige Zeit“ löst Depressionen aus
Dass immer mehr Menschen mit einer Depression öffentlich sichtbar werden, ist für Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, eher ein gutes Zeichen. Denn je klarer das Problem beim Namen genannt wird, um so größer ist die Chance für die Betroffenen, adäquat und vor allem schnell behandelt zu werden. Immer mehr Ärzte und Therapeuten aller Richtungen erkennen mittlerweile Depressionen und die Fülle an begleitenden Symptomen. Was vor zehn Jahren noch als chronischer Rückenschmerz, Kopfschmerz oder Tinnitus bezeichnet wurde, bekommt heute den Namen Depression, wenn es denn eine ist. Zum Nutzen aller. Die Depressiven erhalten schneller die Hilfe, die sie brauchen und halten sich nicht auf therapeutischen Nebenbaustellen auf. Und die Betroffenen von reinem Rückenschmerz, Kopfschmerz und Tinnitus erhalten ebenfalls schneller Zugang zu Behandlungsplätzen, weil diese nicht von anderen Menschen blockiert werden.
Die derzeit gängige Ausweichdiagnose ist das Burnout, ein Wort, welches einen Reigen an unspezifischen Symptomen zusammenfasst. Das hat verheerende Auswirkung: Was nicht sauber diagnostiziert ist, kann auch nicht nach den derzeitigen Erkenntnissen behandelt werden. Im Falle einer echten Depression kann dies zur Chronifizierung führen, im schlimmsten Fall zum Suizid. Ein Blick auf die Zahlen der verübten Selbsttötungen und deren Entwicklung interpretiert die Stiftung Deutsche Depressionshilfe denn auch in die Richtung, dass die Zahlen an Depressionen eben nicht ansteigen. Sie sind wie eh und je häufig, heute aber öffentlicher. In der Suizidstatistik zeigt sich deutlich, dass Betroffene auf der Suche nach Hilfe offenbar auf hilfreiche Angebote stoßen. Setzten Anfang der 80er Jahre noch ungefähr 18.000 Menschen im Jahr ihrem Leben ein Ende, sind es derzeit ungefähr 10.000 – eine drastische Reduzierung und ein großer Erfolg.
Die „heutigen Arbeitsbedingungen“ lösen Depressionen aus
Überforderungen im Arbeitsleben werden als prägendes Merkmal der „heutigen Zeit“ gesehen und eben auch für Depressionen verantwortlich gemacht. Tatsächlich hat eine echte Depression aber keinen zwingenden Zusammenhang mit überfordernden Situationen. Wenn also Zeitdruck und fehlende Trennung von Arbeit und Freizeit beklagt werden, dann ist das durchaus ein zu lösendes Problem, denn die meisten Arbeitnehmer fühlen sich hiervon belastet.
Gäbe es einen Zusammenhang zur Depression, müssten aber auch hauptsächlich Berufstätige von Depressionen betroffen sein – das ist aber nicht der Fall. Außerdem fühlen sich die meisten Depressiven mit einer Arbeit eher besser als ohne, denn die äußere Tagesstrukturierung durch Arbeitszeiten wirkt antidepressiv. Auch das Gefühl, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, hilft Betroffenen, ihren Alltag wertvoller zu empfinden.
Bislang ist wissenschaftlich nicht belegt, ob die empfundene Hetze des Berufslebens Depressionen auslöst oder nicht, der Umkehrschluss funktioniert allerdings nicht.
Sich nicht auszuruhen löst Depressionen aus
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Es gibt noch einen weiteren Faktor, der gegen die Arbeitsthese spricht: das Ausruhen. Wäre Überlastung der Hauptgrund für Depressionen, dann müsste Erholung helfen – also Urlaub, Schlafen, Nichtstun. Aber auch dieser Umkehrschluss funktioniert nicht – die meisten Depressiven sollten sich vor zu viel Schlaf hüten, weil es ihren Zustand verschlechtert. Was dagegen hilft ist ein kontrollierter Schlafentzug. Dieser wird in der stationären Psychotherapie mittlerweile häufig durchgeführt: Die Betroffenen werden dabei eine Nacht wach gehalten, meist in der Gruppe, und dürfen erst am folgenden Tag zur gewohnten Zeit ihre Nachtruhe antreten. Allein diese einfache Maßnahme verbessert das Befinden von etwa 60 Prozent der Depressiven. Und auch wenn das Hoch nur vorübergehend ist, ist es eine gute Möglichkeit, Hoffnung zu schöpfen, was bei einer schweren Depression immer richtig ist.
Auch von einem Urlaub wird Depressiven dringend abgeraten, denn die Erkrankung reist mit. Die Verzweiflung über den eigenen Zustand, das Grübeln über die Welt und die empfundene Unzulänglichkeit im Vergleich zur Umgebung wird ohne stabilisierendes und bekanntes Umfeld oft noch stärker empfunden. Ebenso kann für einen Depressiven gutes Wetter zur Belastung werden – wenn alle draußen das Leben genießen, ist die Fallhöhe zum eigenen Zustand noch größer. Und das erhöht die Verzweiflung.
Eine Depression ist eine ernst zu nehmende Erkrankung, die dringend medizinischer Betreuung bedarf. Vorschnelle Schlüsse über die Ursachen und unzulässige Verknüpfungen mit als unabänderlich empfundenen gesellschaftlichen Entwicklungen der „heutigen Zeit“ helfen dabei nicht. Ein kompetenter Ansprechpartner für Betroffene, Partner und Interessierte ist die Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
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