Dieser oft unterschätzte Mechanismus ist nicht auf bestimmte Personen beschränkt – es kann jeden treffen, muss aber im eigenen Glaubenssystem logisch sein. Ein Satz wie „Sie haben noch drei Monate.“, kann im Falle eines Nocebos schon mal tödliche Auswirkungen haben, denn es gibt tatsächlich Menschen, die sterben, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Nocebo – moderner Zauber.
Beispiele des Nocebo-Effekt: Folgen negativer Gedanken
Sudan in den 1980er Jahren. Ein junger Mann bringt einen Verwandten in die medizinische Station von Ärzte ohne Grenzen. Er habe, so erzählt er, seinen Onkel leblos in dessen Hütte aufgefunden und alle Bemühungen, ihn zu erwecken, seien gescheitert. Da Pfleger und Ärzte dies als Notfall einstufen, geht die vermutete Begründung für den Zustand des Onkels in der Hektik zunächst unter. Nachdem allerdings feststeht, dass der leblose Mann atmet, keine Wunden aufweist, kein Blut verliert, Puls und Blutdruck in Ordnung sind und keine Lebensgefahr besteht, macht sich Ratlosigkeit breit. Der nicht ansprechbare Mann verharrt in einer merkwürdigen Pose. Im Grunde kann niemand eine derartige Verdrehung der Arme und Beine muskulär länger halten, dieser Mann schon. Was er dagegen nicht kann, ist kooperieren. Er führt von ihm Verlangtes zwar mechanisch aus, kehrt dann aber in die alte Haltung zurück und spricht kein Wort. Der Neffe tut nun ein zweites Mal den vermuteten Grund für den Zustand des Onkels kund: er sei „verzaubert“. Die europäischen Ärzte glauben zunächst, sich verhört zu haben. Aber auch einige Übersetzungsversuche später ist der Neffe immer noch überzeugt, dass sein Onkel verzaubert worden sei. Vor einigen Tagen sei er der Hütte des Nachbarn sehr nahe gekommen, zu nahe für dessen Geschmack. Eine Verzauberung sei da eine durchaus übliche Strafe.
In einem europäischen Umfeld wäre dieser katatone Zustand mit einer hohen Dosis eines Psychopharmakons behandelt worden, welches im Sudan aber nicht zur Verfügung steht. Nachdem mit dem Neffen geklärt ist, dass gegen einen Zauber bei versagendem Gegenzauber kein Gras gewachsen ist, greift ein Pfleger zu einer beherzten wie erfolgreichen Maßnahme: Er rammt dem Onkel eine Nadel in die Nasenscheidewand. Dieser reagiert heftig auf den Schmerzreiz und ist anschließend wieder hergestellt.
USA 2007. Ein 26-jähriger Mann ist von seiner Freundin verlassen worden, für ihn Grund genug, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dazu schluckt er 29 Kapsel eines Antidepressivums, er bekommt Todesängste, sein Blutdruck sackt rapide ab, er wird in eine Klinik eingeliefert. Die Bemühungen in der Notfallambulanz sind aber nicht von Erfolg gekrönt, selbst Infusionen stabilisieren den jungen Mann nicht, sein Zustand ist lebensbedrohlich. Bis der behandelnde Arzt die Frage nach der Herkunft der Tabletten stellt und herausfindet, dass der Patient diese als Proband einer Studie erhalten hat. Wie es sich für eine verblindete Studie gehört, wissen die Probanden nicht, ob sie ein Medikament bekommen oder ein Placebo. Derek Adams war der Kontrollgruppe zugeteilt, seine vermeintlichen Antidepressiva enthielten keinen Wirkstoff, auch in einer Überdosis entfaltet ein Nichts nur ein Nichts, daran stirbt man nicht. Als der Mann das erfährt, erholt er sich zusehends, ohne weitere ärztliche Interventionen.
Placebo und Nocebo – ein folgenreiches Zwillingspaar
Klingt wie Voodoo? Ist es auch, heißt nur anders. Was im Südsudan „Zauber“ ist, wird in den USA und auch in Europa „Nocebo“ genannt und ist der Zwilling des wohlbekannten Placebo. Nocebo und Placebo beschreiben die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, erwünschte Wirkungen zu konstruieren. Man muss nur fest dran glauben und es wirklich erwarten, dann klappt es auch. Das Spannendste dabei ist, dass es sich nicht nur um subjektiv empfundene Veränderungen des Befindens handelt, auch ganz objektiv messbare Funktionen werden vom Glauben beeinflusst.
Dieser Mechanismus sollte nachdenklich stimmen. Bislang nutzen wir nur die erwünschten Wirkungen des Placebo, wogegen auch nichts zu sagen ist. Wer kann etwas dagegen haben, wenn Menschen meinen, am Knie operiert worden zu sein und danach weniger Probleme im Gelenk haben, auch wenn nur an der Haut geritzt wurde? Was spricht dagegen, Medikamente zu geben, in denen nichts steckt außer Füllstoffen und die trotzdem helfen, selbst wenn der Patient um das Placebo weiß?
Nur vergessen viele, dass der Gegeneffekt eben auch seine Wirkung entfaltet. Der oft Ärzten in den Mund gelegte Satz: „Es ist Krebs. Sie haben noch drei Monate.“, kann seine Wirkung auch im Sinne des Nocebos entfalten, in diesem Falle eine tödliche, selbst, wenn es sich um eine Fehleinschätzung handelt. Ein unbedachtes: „Diese Stelle sollten Sie im Auge behalten und regelmäßig kontrollieren lassen.“ ist vielleicht fürsorglich gemeint, kann aber auch aus Versehen zu Todesangst führen, mit allen Konsequenzen.
An Nocebo muss man glauben
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Anhand der obigen Beispiele wird eine weitere Eigenart des Nocebo sichtbar: Es ist auf das Glaubenssystem des Einzelnen begrenzt, kann dann aber ungeahnte Kräfte entwickeln. Sicherlich hätte der Onkel im Sudan nach dem Schlucken von 29 Kapseln vermeintlichem Antidepressivum keine Todesängste bekommen und wäre vermutlich erst recht nicht in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten. Auf der anderen Seite hätte Derek Adams wahrscheinlich nur gelächelt, hätte man ihm erzählt, dass sein Nachbar ihn verzaubert hat. Aber anders herum wirkte es – warum? Die Antwort ist einfach: Weil beide Männer es erwartet hatten. Der Onkel rechnete mit einem Zauber, Derek Adams mit dem Tod. Die dabei entstehende Angst ist physiologisch tatsächlich in der Lage, das Immunsystem derart zu beeinflussen, dass ansonsten recht harmlose Krankheitserreger dem Köper den Garaus machen können. Auch Herz und Kreislauf werden durch Angst stark beeinflusst und produzieren schon mal Symptome, die an Lebensgefährdung denken lassen. Die Überzeugung, krank zu sein, kann krank machen und sogar töten. Da braucht es dann schon handfeste Reize oder Beweise, um diesen Kreislauf glaubwürdig zu unterbrechen. Im Falle der beiden Männer waren das ein kräftiger Schmerzreiz beziehungsweise Aufklärung.
Im normalen Alltag reicht es eigentlich schon aus, mit den Menschen zu reden, Überzeugungen und Erwartungen zu hinterfragen und angemessen darauf zu reagieren. Gerade im medizinischen Bereich sollten Menschen nicht im Unwissen gelassen werden, nicht mit verallgemeinerter Statistik abgespeist oder durch lange Wartezeiten geängstigt werden. Auch sollte niemand einen Beipackzettel lesen, ohne dabei fachliche Unterstützung zu bekommen. Wer empfänglich ist für das Nocebo-Phänomen wird sich in diesen Situationen alle möglichen Horrorszenarien ausdenken und mit großer Wahrscheinlichkeit genau daran erkranken. Und niemand ist gefeit davor. Was eigentlich auch eine schöne Nachricht ist, denn so bleiben einem die Segnungen des Placebos auch nicht verwehrt.
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