Das berühmte Experiment mit dem kleinen Albert gilt als wichtiger Grundstein der psychologischen Disziplin des Behaviorismus. Doch während schon lange die ethischen Aspekte des Versuchs von John B. Watson diskutiert wurden, bringen neue Beweise das historische Projekt in jetzt noch größeren Verruf. Demnach hat der kleine Junge aus dem Experiment unter einem Hirnschaden gelitten.
Die alten, wackligen Filmaufnahmen aus dem Jahre 1920 lassen den Gesichtsausdruck des kleinen Alberts nur erahnen. Doch der neun Monate alte Junge scheint zunächst in guter Laune. Der Forscher John B. Watson von der Johns-Hopkins-Universität im amerikanischen Baltimore präsentiert dem Kleinkind eine ganze Reihe von Objekten und Kleintieren. Kein Problem für Albert – selbst von einem kleinen Feuer lässt er sich nicht beeindrucken.
Doch als die weiße Ratte, die der kleine Junge in der ersten Versuchsreihe noch als möglichen Spielpartner ausgemacht hatte, zwei Monate später wieder erscheint, schlägt Watson hinter Albert mit einem Hammer gegen eine Metallstange. Der laute Klang erschreckt den Jungen. Bei Wiederholungen fängt das Kind an zu weinen. Schließlich ist der Forscher in der Lage, Albert nur mit der weißen Ratte zum Weinen zu bringen, der Lärm der Stange ist nicht mehr nötig. Zuletzt reagiert Albert auch mit Furcht auf Dinge, die er mit der Ratte assoziiert – andere Kleintiere, Baumwolle, weiße Bärte. Selbst ein Pelzmantel treibt Albert Tränen in die Augen.
Eines der wichtigsten Experimente im Behaviorismus
Das sogenannte „Little Albert“-Experiment galt lange Zeit als wichtiger Meilenstein in der psychologischen Disziplin des Behaviorismus. Die von John B. Watson mitgeprägte Theorie geht davon aus, dass jegliche Verhaltensweise mit ausschließlich naturwissenschaftlichen Methoden untersucht und erklärt werden kann. Einfühlung und Introspektion seien unnötig. Die Verfechter des Behaviorismus stehen oft im Widerspruch zur Psychoanalyse und zur vergleichenden Verhaltensforschung. Besonders in Nordamerika hat Behaviorismus die Verhaltensforschung an Universitäten jahrzehntelang dominiert.
In den Experimenten der Behavioristen geht es oft um Konditionierung, also um die Steuerung emotionaler und physischer Reaktionen durch Reize. Neben dem kleinen Albert ist der berühmte Pawlowsche Hund das bekannteste Beispiel. Die praktischen Erkenntnisse der Forschung finden heutzutage weitreichende Anwendung, zum Beispiel bei zahlreichen Lernprogrammen, der Abrichtung von Tieren, aber auch bei der Behandlung von Phobien und frühem Autismus.
Das ganze Experiment nur eingefädelt?
In einer Ende Januar veröffentlichten Untersuchung in der Fachzeitschrift „History of Psychology“ (Geschichte der Psychologie) legen die Autoren den Schluss nahe, dass der kleine Albert nicht nur einen Hirnschaden hatte, sondern dass Watson dies auch wusste. Der Forscher habe sich diesen Umstand wahrscheinlich zu Nutze machen wollen, um die Aussagekraft seiner Tests zu erhöhen.
Die wahre Identität des „kleinen Albert“
Einer der Autoren dieser Studie, der Psychologe Hall Beck von der Appalachen Staats-Universität, hatte bereits 2009 Aufmerksamkeit in akademischen Kreisen erregt, nachdem es ihm gelungen war, die wahre Identität des kleinen Alberts mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ermitteln. Nach der Auswertung zahlreicher Dokumente und Urkunden kamen Beck und sein Kollege Sharman Levinson zu dem Schluss, dass es sich um Douglas Merritte handeln müsse, dem Sohn einer Hebamme an der Johns Hopkins Klinik. Merritte verstarb 1925, nur fünf Jahre nach dem Experiment, im Alter von sechs Jahren. Als Todesursache nannten die Dokumente Hydrocephalus, auch als „Wasserkopf“ bekannt, vermutlich als Folge von Meningitis, die das Kind drei Jahre zuvor entwickelt habe.
Obwohl es so erschien, als ob der kleine Douglas die Krankheit erst nach Beendigung des Experiments entwickelt habe, hatte Beck seine Zweifel. Er erinnerte sich an Aussagen von Watson, der immer wieder betonte, wie „normal, gesund und gut entwickelt“ sein Versuchsobjekt war, offenkundig darum bemüht, das Experiment legitim erscheinen zu lassen. Doch die alten Filmaufnahmen vermittelten Beck den Eindruck eines „in seiner natürlichen Entwicklung zurückgebliebenen Kindes“.
Die Skeptiker wittern den Betrug
Also entschloss sich Beck, den Fall weiter zu untersuchen, diesmal zusammen mit Alan Fridlund, einem weiteren Psychologen von der Universität Kaliforniens in Santa Barbara. Auch Fridlund findet erhebliche Lücken und Widersprüche in der Geschichte. So sei es zunächst seltsam, dass in einer Ära bevor Antibiotika zur Anwendung kamen, ein Kind drei Jahre mit Meningitis überleben könne. Die Filmaufnahmen beunruhigen Fridlund ebenfalls. So sei das Verhalten des Kindes „alarmierend reaktionsarm“, die Bewegungen lassen den Psychologen auf neurologische Probleme und Sehschwierigkeiten schließen. Um eine weitere Meinung zu erhalten, baten die beiden Forscher einen weiteren Kollegen um eine Analyse des Films, ohne ihm dabei zu sagen, dass es sich um das berühmte Experiment handelt. So kommt auch der Neurologie-Professor William Goldie zu der Einschätzung, dass der Junge in den Aufnahmen entweder autistisch sei oder unter einem anderen neurologischen Problem leide. „Man kann sehen, dass da etwas falsch gelaufen ist“, bekräftigt Goldie.
Den jedoch schwersten Beweis für Watsons unmoralisches Handeln liefert der Neffe des Versuchskindes, Gary Irons. Er ermöglicht Beck und Fridlund Einblick in die medizinischen Unterlagen des kleinen Douglas von der Johns Hopkins Klinik. Sie belegen: Douglas Merritte war in der Tat der kleine Albert, er war von Geburt an schwer krank, weinte oft ohne klare Motivation und lernte niemals zu sprechen oder zu laufen. „Das lässt uns zu dem beinahe unumgänglichen Schluss kommen, dass Watson den wahren Zustand des kleinen Alberts kannte und ihn absichtlich verschleierte“, sagt Alan Fridlund.
Forscher sollten auch als Person genauer beleuchtet werden
Ginger Ross Breggin, Direktorin eines bekannten Therapiezentrums in den USA, findet, dass die Enthüllungen über John Watson und den kleinen Albert einen Anstoß dazu liefern sollten, in solchen Fällen sich stärker mit den Forschern als mit ihrer Forschung zu befassen. Sie verweist darauf, dass Watson seine Arbeit als Verhaltensforscher schnell aufgab und 1924 Vize-Präsident einer der größten Werbeagenturen Amerikas wurde. „Was er also wirklich tat, war nur herauszufinden, wie er Menschen am besten manipulieren konnte“, mutmaßt Breggin.
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