Das von dem Schweizer Pharmakonzern Roche produzierte Grippemedikament Tamiflu ist erneut in die Kritik geraten. Eine am Mittwoch von dem internationalen medizinischen Gutachter-Netzwerk Cochrane Collaboration veröffentlichte Untersuchung bezweifelt, dass es ausreichende Beweise für die Wirksamkeit der Arznei gebe. Außerdem seien die Nebenwirkungen heruntergespielt worden.
David Finkelstein staunte nicht schlecht. Das amerikanische Pharmaunternehmen Genentech hatte dem pensionierten Politikexperten der Ford-Stiftung ganze 200 Dollar für sein Schweigen angeboten. Wie Millionen anderer Menschen hatte Finkelstein während der Vogel-und Schweinegrippe-Epidemien in den Jahren 2006 und 2009 vorsorglich das von Genentech in den USA vertriebene Medikament Tamiflu erworben. Nachdem der New Yorker 2009 darüber gelesen hatte, wie das internationale medizinische Gutachter-Netzwerk Cochrane Collaboration erhebliche Zweifel an der Effektivität von Tamiflu angemeldet hatte, fühlte sich Finkelstein betrogen und forderte vor Gericht sein Geld zurück. Daraufhin bot der Konzern an, die Kosten zurückerstatten, sofern Finkelstein sich vertraglich dazu verpflichte, seine Vorwürfe nicht zu wiederholen.
Hätte Finkelstein mit seiner Klage noch etwas länger gewartet, hätten die Cochrane-Epidemiologen ihm sogar noch weitere Argumente für seinen Gerichtstermin geliefert. Denn am Mittwoch präsentierte das internationale Forschungsteam um den in Rom ansässigen Dr. Tom Jefferson seine neuesten Erkenntnisse über Tamiflu. Dieser neue Bericht könnte für den Schweizer Patenthalter des Medikaments milliardenschwere Folgen haben. Nach der Auswertung von bis dato unveröffentlichten Untersuchungsunterlagen von Roche selbst kommen die Wissenschaftler nämlich zu dem Schluss, dass es keine schlüssigen Belege dafür gebe, dass Tamiflu den Verlauf einer schweren Grippe abmildern könne. Darüber hinaus weise das Medikament mehr Nebenwirkungen auf, als jahrelang von Roche zugegeben. Das Verhalten des Schweizer Pharmariesen während der Cochrane-Recherche legt außerdem den Verdacht nahe, dass weitere für das Medikament ungünstige Daten aus den Versuchsreihen weiterhin zurückgehalten werden.
Nach seiner Markteinführung in der Europäischen Union im Jahre 2002 entwickelte sich Tamiflu besonders aufgrund der Grippepanik in den Jahren 2006 und 2009 schnell zu einem der finanziell erfolgreichsten Medikamente für Roche. Nationale Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt, darunter in Deutschland, den USA und Großbritannien investierten auf Empfehlung der Weltgesundheitsbehörde WHO Milliarden, um über ausreichende Tamiflu-Bestände im Falle einer Epidemie zu verfügen. Allein 2009 bescherte das Medikament dem Schweizer Konzern nach Angaben des British Medical Journal einen Umsatz von 3,4 Milliarden Dollar.
Auch die Cochrane-Gruppe kommt 2006 zunächst zu dem Schluss, dass Tamiflu eine wirksame Waffe im Kampf gegen die Grippe ist. Die Forscher stützten ihre Schlussfolgerung seinerzeit auf die Metaanalyse von zehn klinischen Studien. Demnach vermindere das Medikament die Dauer einer Influenzagrippe um einen Tag. Die Krankheit verlaufe harmloser und gefährliche Komplikationen wie zum Beispiel eine Lungenentzündung werden vermieden.
Doch bald darauf kommen erste Zweifel auf. Ein japanischer Kinderarzt alarmiert in einem Brief die Cochrane-Gruppe darüber, dass die Daten, auf die sich die Forscher gestützt hatten, von Wissenschaftlern zusammengestellt worden waren, die von Roche dafür bezahlt wurden. Und nur zwei der zehn Studien seien in Fachzeitschriften publiziert worden und daher einer medizinisch-redaktionellen Überprüfung unterzogen worden. Jedoch belegten nur die acht verbleibenden Studien, dass Tamiflu besser wirke als ein Placebo.
2009 entscheiden sich die Cochrane-Experten daraufhin, ihre Untersuchung nur unter Heranziehung der zwei veröffentlichten Studien zu wiederholen. Und in der Tat: der Beweis, dass Tamiflu schwere Komplikationen im Verlauf einer Influenzagrippe verhindere, kann nun nicht mehr erbracht werden.
Dr. Tom Jefferson und sein Team geben nicht auf und wollen nun der Frage nach der Effizienz von Tamiflu ein für allemal auf den Grund gehen. Sie fordern von Roche die ‚Rohdaten‘ der Versuchsreihen an – alle Protokolle über den Krankheitsverlauf der Versuchspersonen und nicht nur die in Berichten verfassten Schlüsse der Wissenschaftler. Nach Verzögerungen liefert der Pharmakonzern schließlich 3195 Seiten an Material. Doch die Daten entpuppen sich als unvollständig. Obwohl die Versuchsreihen normalerweise vier bis fünf Module umfassen, legt Roche nur die Daten des ersten Moduls vor.
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Das Cochrane-Team versucht, die fehlenden Module selbst zu finden und wird schließlich bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA zumindest teilweise fündig. Unter Berufung auf das Gesetz zur Informationsfreiheit erlangen die Forscher hier Zugang zu dem zweiten Modul der Testreihen, das Roche im Zuge des Genehmigungsverfahrens der EMA vorgelegt hatte.
Obwohl die Daten der anderen Module weiterhin fehlen, können die Forscher nun auf 30 000 Seiten von Testberichten zurückgreifen. Genug, um Widersprüche zu finden und mehr Zweifel aufkommen zu lassen. Zum Beispiel belegen die detaillierten Beschreibungen der Versuchsreihen Nebenwirkungen, die schließlich in der Auswertung verschwiegen wurden. Unter dem Strich steht eine klare Aussage: Roche bleibt weiterhin den Nachweis schuldig, dass Tamiflu eine Influenzagrippe abschwächt.
Auch die zuvor verschwiegenen Nebenwirkungen könnten den Pharmakonzern teuer zu stehen bekommen. Im November 2011 ergänzte Roche plötzlich die Liste der Tamiflu-Nebenwirkungen um ganze 14 Symptome, darunter Muskelschmerzen, Fieber, Herpes, Nebenhöhlenentzündung und Ohrschmerz.
Schon jetzt erwarten Rechtsexperten eine ganze Reihe von Klagen gegen Roche. Einer der ersten Prozesse könnte dabei der Fall der Britin Samantha Millard sein, die nach eigenen Angaben nach der Einnahme von Tamiflu erblindete.
David Finkelstein jedenfalls konnte seine Klage gegen die Produzenten von Tamiflu gewinnen. Ein Gericht in Newark stand dem Rentner die Rückerstattung seiner 200 Dollar zu. Außerdem darf Finkelstein seine Zweifel an der Wirksamkeit von Tamiflu weiterhin öffentlich wiederholen.
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