In der Eurokrise schaut die Welt auf dieses Land und sucht nach Erklärungen für das Zaudern der Bundesregierung. Diese Analysen sind manchmal interessant – und manchmal bizarr.
Lange nicht stand Deutschland so sehr im Zentrum des Weltinteresses wie in den vergangenen Wochen. Die Euro-Krise, die wie die amerikanische Immobilienblase das Zeug hat, einen Crash der Weltwirtschaft auszulösen, macht die deutsche Politik auf einmal interessant. Kommentatoren in aller Welt rätseln, wann die Deutschen endlich etwas Mutiges unternehmen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Die Psychoanalyse des offenbar besonders komplizierten deutschen Kollektiv-Charakters ist gerade sehr beliebt bei Autoren, die nach Erklärungen für das irritierende Verhalten der Bundesregierung suchen.
Diese Analysen schwanken zwischen interessant und bizarr. „Seit über 200 Jahren suchen die Deutschen ein fehlendes Teil ihrer Seele: Leidenschaft“, schreibt die NEW YORK TIMES verständnisvoll. Deutschlands Motivation, Griechenland zu helfen, sei nicht Cash, sondern Kultur. Denn die Leidenschaft finde der zu Hause eher freudlose Deutsche nur im Urlaub am Mittelmeer, weswegen er neidisch sei auf die Südländer. Aber: „Trotz der vielen Übung, die eigene Überlegenheit zu verkünden, sind sich die Deutschen tief drinnen nicht sicher, ob sie es diesmal richtig machen, trotz alledem.“ Diagnose: verklemmt.
Der ECONOMIST dagegen versucht es religionssoziologisch. Das britische Magazin vermutet die Reformation hinter der deutschen Haltung. Wenn Wolfgang Schäuble eine Rede halte, könne man meinen, da spreche ein Luther: „Die richtige Antwort auf finanzielle Sünde ist nicht der Ablasshandel, sondern Umkehr, Glaube an die Lehren der finanziellen Stabilität und gute Taten: die Staatsverschuldung abzubauen, gerecht zu sein in den öffentlichen Finanzen, die Lust auf höhere Löhne zu hemmen und die Gier der Geldverleiher einzudämmen. Nur auf diese Weise kann Europa der Verdammnis entgehen.“ Diagnose: fromm.
Am abgefahrensten analysiert aber der Reporter von VANITY FAIR dieses exotische Land (nicht ohne jede Menge faktische Fehler in seine Reportage einzubauen): „Wenn man von Sauberkeit und Ordnung besessen ist, aber Schmutz und Chaos eine geheime Faszination ausüben, ist irgend eine Form von Ärger vorprogrammiert.“ Wobei er die Deutschen im Allgemeinen als von Exkrementen besessen beschreibt – schließlich gäbe es jede Menge Varianten für den Gebrauch des Wortes „Scheiße“ im Deutschen. Der genaue Zusammenhang mit der Eurokrisen-Politik kann hier nicht in seiner ganzen Komplexität wiedergegeben werden. Diagnose: pervers.
Es ist natürlich ein besonders deutsches Hobby, sich für die Meinungen ausländischer Beobachter über den eigenen angeblichen Volkscharakter zu interessieren. Wenn das Urteil anderer einen hohen Stellenwert hat, ist das wohl ein Symptom von Komplexen. Nach Weltkrieg und Holocaust galten Nazitum, Rassismus und Militarismus schließlich als nationale Eigenschaften. Man kann die deutsche Nachkriegspolitik auch als das Bemühen beschreiben, sich einen guten Ruf in der Welt zu erarbeiten.
Über die Jahrzehnte änderte diese Entlastungspolitik, noch mehr aber der enorme wirtschaftliche Erfolg und später der Fall der Mauer das Bild vom Deutschen als ewigem Nazi. Gleichzeitig war die Bundesrepublik nach Ende des Ost-West-Konflikts auf einmal weniger wichtig. Wirtschaftlich kränkelnd, militärisch unbedeutend, demografisch auf dem absteigenden Ast – Deutschland war ein bisschen egal.
Das hat sich durch den Aufschwung der deutschen Wirtschaft, dem rasanten Wachstum neuer Export-Märkte in den Schwellenländern und eben durch die Eurokrise geändert. Angela Merkel wird in Europa und den USA als die heimliche Präsidentin der EU beschrieben, nachzuhören beinah jeden Morgen in der internationalen Presseschau im DEUTSCHLANDFUNK: „Nicht Barroso, sondern Bundeskanzlerin Merkel sollte die Rede zur Lage in der Europäischen Union halten“, verkündet da zum Beispiel RZECZPOSPOLITA aus Warschau. „In der EU regiert die deutsche Kanzlerin – auf sie richten sich die Augen von Politikern, Unternehmern und Investoren der ganzen Welt.“
Die Deutschen sind als potentester Euro-Teilnehmer wieder wichtig – aber die Welt hat kein klares Bild mehr von ihnen. Eine überzeugende Charakterstudie des neuen Deutschlands ist gesucht. Nazi-Anklänge finden sich nur noch selten, zum Beispiel in VANITY FAIR, die es versteht, ihre Fäkalien-These sprachlich mit dem Thema Genozid zu verbinden: „Für die Deutschen ist der Euro nicht nur eine Währung. Es ist ein Gerät, um die Vergangenheit wegzuspülen – ein weiteres Holocaust-Mahnmal.“
Aber auch andere Deutschen-Klischees sind zur Genüge vorhanden: Der arbeitswütige Ingenieur. Der größenwahnsinnige Wissenschaftler. Der freudlose Protestant. Der manische Schufter. Der besserwisserische Pedant. Alles nicht unbedingt falsch. Aber doch eher karikierende Übertreibung, als eine realistische Beschreibung der aktuellen deutschen Gesellschaft, Kultur und Öffentlichkeit. Oder?
Bei den internationalen Beobachtern überwiegt in dieser Frage die Ratlosigkeit. Und die ist vor allem der deutschen Politik geschuldet. Das Nein zum Libyen-Einsatz passt ebenso wenig ins jahrzehntelang mühsam erarbeitete alte neue Deutschland-Bild wie das Zaudern, deutsches Geld für Europa einzusetzen. Es fehlen Antworten auf Fragen wie: Was ist Deutschlands Rolle in Europa und der Welt? Was will Merkel? Wie ist dieser Westerwelle Außenminister geworden?
Die ehrlichste Antwort: Wir wissen es selbst nicht mehr.
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