Irgendwo in der Großstadt, mitten in der Nacht. Es ist stockdunkel und der Wind weht eine kühle Brise durch die engen Gassen. Ein junger Mann schleicht umher. Er hat die Kapuze seines Pullis tief in das Gesicht gezogen und sieht sich vorsichtig um, ob er unbeobachtet ist. Er nähert sich dem Hintereingang eines Supermarktes, geht auf die Container zu. Was er im Sinn hat ist aber kein Überfall und kein Verbrechen, sondern der Speiseplan der kommenden Woche. Denn ehe man sich versieht, steckt der junge Mann kopfüber in den Containern des Ladens und wühlt nach brauchbaren Lebensmitteln. Klingt nach einem Märchen? Ist es aber nicht. Das Verhalten nennt sich „Dump Diving“ und ist nicht nur letzter Ausweg für verarmte Menschen, sondern auch eine Art stiller Protest, vorzüglich von Studenten, gegen eine Wegwerfgesellschaft, die immer ausufernder zu werden scheint.
Drei Gänge-Menü aus drei Tonnen
Große Mengen Lebensmittel landen tagtäglich im Müll, das lässt sich nicht bestreiten. Und was sich auch nicht bestreiten lässt, ist, dass vieles davon eigentlich noch nicht in den Müll müsste. Denn nicht nur die Haltbarkeit der Produkte ist ein Aspekt des Wegwerfens, sondern auch deren Makellosigkeit. Aufgerissene Verpackungen, getrennte Mengeneinheiten oder äußere Verschmutzungen reichen oftmals aus, damit ein an sich mängelfreies Produkt vorschnell in den Müllcontainern landet. Viele Menschen sehen darin eine günstige Gelegenheit, kostenlos ihre Nahrungsmittel zu beschaffen. So auch die Dump Diver, die seit einigen Jahren systematisch die Entsorgungsstellen verschiedener Supermärkte durchforsten und ihren Speiseplan spontan entsprechend ihrer aktuellen Funde gestalten. Wie so einige Trends, kommt auch das „Dump Diving“ ursprünglich aus den USA und wird in Deutschland häufig auch „Containern“ oder „Mülltauchen“ genannt. Und dieses Mülltauchen hat sich zu einer richtigen Szene entwickeln. Im Internet wird sich über geeignete Stellen ausgetauscht, gegenseitige Fundstücke präsentiert und auch über die verschiedenen Sicherheitsvorkehrungen unterschiedlicher Läden informiert. Denn was auf den ersten Blick vielleicht nicht gleich offensichtlich sein mag: Auch beim Entwenden von Müll handelt es sich rechtlich um Diebstahl. Befindet sich der Müll hinter verschlossenen Toren, wie es bei Supermärkten überwiegend der Fall ist, kommt auch Einbruch zu dem Vorgehen hinzu. Das wird von den Dump Divern aber lediglich zur Kenntnis genommen, denn abhalten kann es die Mülltaucher nicht von Ihrem Vorhaben. Denn schließlich geht es in erster Linie nicht darum den Magen zu füllen, sondern eine Art stillen Protest an der Wegwerf- und Überflussgesellschaft zu üben. Allerdings kann ein zu stiller Protest auch dazu führen, dass er ungehört bleibt.
Geiz ist geil
Das Containern, Mülltauchen oder wie auch immer man den kostenlosen Einkauf in den Müllcontainern der Supermärkte auch nennen will, stößt nicht nur auf Zustimmung. Kritiker sehen hinter dem Schlemmen aus den Abfallprodukten schlicht eine ausufernde Geizmentalität unter fadenscheinigen Vorwänden. Und ganz so falsch sind die Vorwürfe vielleicht gar nicht. Was bei der Berichterstattung über das Dump Diving nämlich nur selten berücksichtigt wird, sind die mittlerweile weit verbreiteten Tafeln, die von den Spenden der Supermärkte leben. Auch in diesem Bereich ist sicherlich nicht alles Gold was glänzt, doch lassen sich solche Einrichtungen, die sich um das leibliche Wohl der sozial Schwachen kümmern durch ein simples Ausblenden nicht einfach leugnen. Zwar wird den teilnehmenden Unternehmen immer wieder die Schaffung eigennütziger Vorteile durch die Spende vorgeworfen, doch dürfte die Motivation, warum der eine oder andere Laden seine Lebensmittel spendet, für die Mägen der Bedürftigen so ziemlich uninteressant sein. Insofern mag die beabsichtigte Sozialkritik der Mülltaucher auch ein wenig schwächeln, wenn die Ursache allen leichtfertigen Überflusses an weggeworfenen Lebensmitteln festgenagelt werden soll, während das Argument, dass Lebensmittel eher weggeworfen denn verschenkt werden nicht verallgemeinert werden kann, weil die nachweislich gut gefüllten Tafeln eine deutlich andere Sprache sprechen. Einen Punkt früher anzusetzen und die Überproduktion von Lebensmitteln beziehungsweise die Konsum- und Überflussgesellschaft an sich zu bemängeln mag je nach Standpunkt durchaus sinnvoll sein, aber ob sich die Lösung des Problems in Mülltonnen findet, dürfte bezweifelt werden. Berücksichtigt man zudem die angebliche Absicht der Mülltaucher, möglichst viele Menschen durch den Protest der antikapitalistischen Nahrungsmittelbeschaffung aufmerksam zu machen in Hinblick darauf, wie wenige es wohl tatsächlich mitbekommen, wenn drei, vier Studenten des Nächtens über ein abgeschlossenes Supermarktgelände schleichen, fällt es umso schwerer den Wert des Protestes nachzuvollziehen. Wer es natürlich vorzieht, sich aus der Mülltonne zu ernähren, bitteschön, aber für einen sozialkritischen Protest gibt es glaubwürdigere und effizientere Wege, vor allem solche, die von der kritisierten Gruppe, nämlich der Masse, auch wahrgenommen werden. Ein „Müll-Butterberg“ auf einem öffentlichen Platz, der aus einem einzigen nächtlichen Streifzug stammt oder ein riesen Bottich voll „Müllsuppe“ mit einem Mobile aus rostigen Löffeln riechen eher nach echtem Protest, während das kritisch motivierte Dump Diving den faden Beigeschmack trägt, das eigene Handeln vor sich selbst rechtfertigen zu wollen.
© Pixel Trader Ltd. 2013 Alle Rechte vorbehalten