Zum normalen Selbstverständnis eines psychisch gesunden Menschen gehört es, sich selbst als eine individuelle und zeitstabile Persönlichkeit im eigenen Körper zu erleben. Und in seiner Umwelt selbstbestimmt zu agieren und anforderungsgemäß zu reagieren. Mit anderen Worten: Der „Normalo“ steht als Herr seiner selbst mit beiden Beinen fest im Leben. Was aber, wenn die eigene Person oder der eigene Körper plötzlich infrage stehen? Was, wenn man eines Tages aufwacht, und das Gefühl hat, an fremden Körperteilen festgewachsen zu sein? Oder wenn man sich plötzlich von der bislang vertrauten sozialen und räumlichen Umwelt komplett entfremdet und abgeschnitten fühlt? Dann ist es leider ziemlich wahrscheinlich, dass die eigene Person in den psychotischen Strudel von Depersonalisation und Derealisation geraten ist; eine durch und durch grauenhafte Erfahrung, die man selbst seinem ärgsten Feind nicht wünschen sollte.
Depersonalisation / Depersonalisierung
In seinem uneingeschränkt lesenswerten Buch „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ beschreibt der brillante Neurologe Oliver Sacks sehr eindrücklich besonders gravierende Fälle von Depersonalisation. Darunter ein Patient, der eines Morgens mit gellenden Schreien bei dem Versuch vorgefunden wird, sein Bein aus dem Bett zu werfen. Das ist mehr als verständlich, wenn man weiß, dass der Patient dieses Bein als das leblose tote Bein eines Verstorbenen empfindet, welches aus irgendwelchen Gründen an seinem Körper haftet. Er will das grässliche Ding loswerden, er will es aus dem Bett werfen, sein Ekel kennt keine Grenzen. Doch natürlich hat er keinen Erfolg mit seiner Aktion. Den psychisch gesunden Betrachter mutet ein solches Szenario bizarr an. Doch wer sich mit etwas Empathie in die konkrete Gefühlswelt des Patienten hineinversetzt, dem dürfte ebenfalls ein kalter Schauer über den Rücken laufen.
Neben diesen höchst dramatischen Veränderungen des Körpererlebens kann es auch passieren, dass die Patienten sich als emotional völlig taub und komplett gefühlserkaltet wahrnehmen, verzerrende perspektivische Veränderungen der visuellen Wahrnehmung erleiden, oder sich als ferngesteuerte Roboter und Marionetten an Fäden erleben. In anderen Fällen verblasst oder verebbt das Gedächtnis, und der Zugriff auf Gedächtnisinhalte ist erschwert oder komplett behindert.
Derealisation
Wenn die gewohnte und vertraute Umwelt auf einmal völlig verfremdet wahrgenommen und als abnorm erlebt wird, dann kann das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit vernichtend sein. Zwar kennt der Patient alles wieder, was er sieht, aber es erscheint ihm jedes Detail unheilvoll unwirklich. Dieses bedrohliche Fremdheitserleben bezieht sich dabei sowohl auf unbelebte Objekte als auch auf die Menschen, die zum normalen sozialen und gesellschaftlichen Umfeld des Psychotikers gehören. Beim derealisierten Patienten werden diese bekannten Bezugspersonen plötzlich als nicht vertraut, als irreal oder als „Automatenmenschen“ erlebt. Sie erscheinen in ihrer Optik stark verzerrt, oder als „sehr weit weg“.
Gibt es diese Ich-Störungen auch außerhalb von psychotischen Zuständen?
Jede Situation, die einen ansonsten gesunden Geist in einem gesunden Körper aus dem Tritt bringen kann, ist prinzipiell auch dazu geeignet, Erlebnisse der Depersonalisation oder der Derealisierung ursächlich zu begründen. Das kann eine hoffnungslose Übermüdung sein, eine extreme Stresssituation oder eine akute Gefahr für Leib und Leben. Doch auch Drogenkonsumenten oder Menschen, die spirituell regelmäßig aktiv sind, kennen solche induzierten Entfremdungserlebnisse. Dann heißt das allerdings Rauschzustand, Trance oder Meditation.
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